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Ein Leben aus dem Schuhkarton |
Es gibt sie in jeder Familie. Die berühmte Kiste. Mit den uralten Fotos. Meist ist es ein Schuhkarton. Darin sind die Leben dann so komprimiert, als hätte ein genialer Dramatiker sie auf der Bühne der Erinnerungen inszeniert. Szenenfetzen, ohne dass sich jemand erinnert, in welchem Zusammenhang sie stehen. Legenden, die auf endlosen Familienfeiern bis zum Überdruss wiederholt erzählt wurden – mit sich steigernder Dramatik, sprich Verfälschung der Realität. Oder manchmal auch, tragisch und traurig, die wenigen Fotos, die man noch hat retten können. Vor dem und im Krieg, bei Vertreibung und Flucht. Und je mehr die Zeit voranschreitet, desto fremder werden sie uns, bis sie fast schon museale Stücke zum Anstarren sind, zu denen die Heutigen kaum oder keinen Bezug mehr haben. Sie vor dem totalen Vergessen zu bewahren, sollte eigentlich gemeinsames Anliegen sein. Aber mancher zieht der eigenen Familienhistorie auch einen Euro bei eBay vor. Dieses Schicksal blieb den nachfolgenden Bildern erspart.
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Oh herrjeh. Aber kann man die Instanz anflehen, den Menschen die Versüßlichung religiöser Ideen zu verzeihen, wenn sie doch gerade als Preisung des Höchsten genau diese Schwülstigkeit geschaffen haben?
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Jedenfalls geben solche Motive einen direkten Einblick in die Gedankenwelt um die Jahrhundertwende 1900; als die so genannte Biedermeier-Epoche mit der Erstarkung und Selbst-Verherrlichung des Bürgertums auch auf das "einfache Volk" übergriff und überhaupt in heldenwahnhafter Blut- und Boden-Mentalität alles gepriesen sein sollte, was zur Formel "Für Kaiser, Gott und Vaterland" passte – und zwar genau in dieser Reihenfolge. Obwohl 1917, da man dieses Zeugnis der Konfirmation den jungen Menschen auf den Lebensweg gab, der Krieg schon Millionen grausam Getötete gekostet hatte, Sterben und Not kein Ende fanden. Da musste selbst Jesus mächtig ran, um heile Wel zu spielen. Aha, daher: "Heiland".
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Dank an Hans-Joachim Loose, Ex-Solinger, der mir diese Bilder spontan zur Verfügung gestellt hat. Sie zeigen Erinnerungen der Familie "mütterlicherseits".
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Die Not nahm kein Ende. 1924 war der Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, das Geld binnen weniger Monate nichs mehr wert, Existenzen wurden jäh vernichtet; die Weimarer Republik zerbrach, das kommende Dritte Reich nahm seinen scheinbar unaufhaltsamen (An-) Lauf. Da half nur, was auch heute hilft: die Flucht in die selbstgeschaffene Idylle und insofern abermals heile Welt. Bislang kannte man ja den (inneren) Schweinehund, aber siehe da, auch ein Erdhund ist des Jägers Gesell. So genannt, weil er Dachsen und Kaninchen aufgrund geringen Brustumfanges in ihre Erdhöhlen folgen und sie dort fassen kann. Die Teckel/Dackel in jeglicher Rasse gehören zu den Erdhunden, aber auch Terrier verschiedener Rassen.
Seinen Jagdhund Türk zu nennen, könnte man sich heute wohl kaum noch erlauben.
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Eine Solinger Karriere: geboren in Höhscheid, in Ohligs zur Schule gehend. Mit 7 Jahren eingeschult – ein Jahr länger glückliche Kindheit.
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Die heute so umstrittenen und vehement abgelehnten Kopfnoten – was, in aller Welt, hat man nur dagegen? Wenn sich Schüler, wie nicht selten üblich, rotzfrech benehmen (nur zur Klarstellung: ich sage NICHT "alle" !), wenn sie faul und schludrig sind, was in aller Welt muss das für eine Pädagogik sein, die dies verschweigt? Vor wem? Mich beschleicht der schlimme Verdacht: vor dem eigenen Versagen.
Und wegen der Logik: ein "nicht genügend" oder "ziemlich gut" leuchtet über die Jahrzehnte hinweg mehr und besser ein als 1,7 oder 68 Punkte oder 80% oder so – denn gut ist gut, aber was ist "hat seine Aufgabe in sozialharmonischer Kommunikations-Interaktion bei Anerkennung abstrakter Faktoren im Wege der Ergebnisduplizierung erfüllt" – wir nannten das früher "der hat abgeschrieben".
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1917, der Erste Weltkrieg ist auf dem Höhepunkt des Tobuwahohu, ereignen sich merkwürdige Dinge auf dieser Zeugnisseite: Plötzlich wird der Vater zum Lehrer (???), gleichzeitig Rektor, und des Hauptlehrers Name taucht als Vater auf. Scheinbar ging da aber auch alles durcheinander.
Immerhin hat der Knabe Fritz Giese eine konsequente Haltung zur Religion, trotz oder wegen seines Konfirmations-Panoramas: Von "mangelhaft", Note 4 von 5 (es gab noch keine 6) auf die vernichtende 5, "ungenügend". Trotzdem: ins Leben entlassen.
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Da das Zeugnis in Gesang ein "gut" aufweist, nimmt es nicht wunder, wenn der heranwachsende Jüngling sich dann bald in einem der zig dutzend Gesangsvereine beliebt machte, zumal diese den Männern jeglichen Alters die Möglichkeit boten, der Strenge der häuslichen Ordnung zu entfliehen und, das gehört dazu, kräftig die Kehlen zu ölen.
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Deutlich sieht man den "Trick": erste Reihe auf Stühlen sitzend, zweite Reihe stehend, die dritte auf den Stühlen stehend.
Wer sie hatte, durfte in Uniform dabei sein. Das Bild entstand um 1940. Da ist es fast noch ein Wunder, dass um die Vereinsfahne noch kein Hakenkreuz-Band geschlungen war.
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Barler Gesangsverein um 1920
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Man sieht, es muss eine Zwischenära sein. Die einen haben noch den typischen Kaiserbart, die anderen tragen das Charlie-Chaplin-Bärtchen, mit dem auch ein Österreicher mit den Initialen A.H. in Deutschland die Massen dämonisierte.
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Damals, 1932, waren Mädels ganz einfach nur brav. Man zog ihnen ein weißes Kittelschürzchen an (die Großmütter trugen auch so eines, sonntags, beim Kaffeeklatsch) und schickte sie zur Schule. "Zur Erinnerung an meine Schulzeit 1932" steht auf der Tafel (übersetzt für die SMS-Generation). Man beachte die Strumpfmode. Und das Klämmerchen im Haar.
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Die Klasse der Volksschule Löhdorf 1932
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Klassenbild Volksschule Löhdorf 1932 mit Lehrer.
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Fand sich auch im Schuhkarton: zwei Fotos vom Nachkriegs-Neubau des Kaufhofes, 1950. Die Lastwagen wären heute die Sensation auf jedem Oldtimer-Treffen.
Zur Orientierung: das (große) Gebäude im Hintergrund steht an der Kasinostraße und beherbergt die Casinogesellschaft, im Eckhaus ist die Commerzbank ansässig. Achten Sie auf die "Normaluhr" am Mühlenplätzchen, links im oberen Bild.
Worauf warten die Leute, links im Bild? Auf die Straßenbahn? Nein, schlimmer, auf eine Arbeitsstelle. Sie hatten ganz einfach Zeit, weil noch keine Arbeit.
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