Solinger Generalanzeiger 1910 - 1

Ach, wie schön hysterisch können sie sich aufregen. Presse wie Politiker gleichermaßen, der "gemeine Mann" auf der Straße nicht minder. Die "Geiz-ist-geil"-Mentalität wäre doch soooo schrecklich und ungemein neuzeitlich. Sensationsgehabe der Geschäfte ein ekelhaft moderndes Ding. Die Billig-Manie Zeichen heutiger Dekadenz. Arbeitslosigkeit ganz furchtbar, und so typisch für heute. Oder Zwangsabgaben, egal welcher Art, eine Erfindung des Gegenwärtigen. Ach, sie wissen nichts, aber auch gar nichts, von der Vergangenheit, diese geifernden Eiferer; denn in kühler Gelassenheit kann, wer in alten Zeitungen blättert, konstatieren: ALLES SCHON MAL DA GEWESEN. Die Werbesprüche und die Vernebelungstaktiken, die modernen Marken sind oft alt und das heutige Gehabe – billig, billig! – war vor ziemlich genau 100 Jahren (!) bereits gang und gebe. Was also hat sich genändert. Um genau zu sein, NICHTS, aber auch rein gar nicht. HEUTE IST IN SOLINGEN ALLES NOCH SO WIE FRÜHER. Was zu beweisen ist:

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Wir können froh sein, dass Solingen heute noch eine Zwei-Zeitungs-Stadt ist (Solinger Tageblatt und Solinger Morgenpost [Rheinische Post]), Viele deutsche Städte auch dieser Größe sind länst Monopol einer einzigen «stimmungs- und meinungs-machenden Heimatzeitung». Allerdings ist es mit der Medienkonkurrenz in Solingen auch nicht so weit her, denn der Eigner des Tageblatts ist auch gleichzeitig dominanter Gesellschafter in Radio RSG, der auditiven "Konkurrenz" zur Zeitung – eben fest in einer Hand. Aber früher – vor rund 100 Jahren – war die Presselandschaft in Solingen vielschichtiger, vor allem politisch ausgerichteter. Statt wie heute unter dem Deckmäntelchen der Ausgewogenheit doch (versteckte) Politik zu machen, bekannten sich die Redaktionen klar zu politisch-gesellschaftlichen Standpunkten. Der General-Anzeiger war eine "Arbeiter-Zeitung" und zeitweise die größte der Tageszeitungen in der Klingenstadt.

Die Reihenfolgen der Anzeigen und ihre Zusammensetzung ist genau so bunt gemischt, wie sie typischer Weise in der Zeitung «durcheinander» erschienen sind.

Alle Anzeigen stammen aus dem Jahre 1911.

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Fremdworte – eine Modeerscheinung von heute. Nein. Gab es immer schon. Oder können Sie "Sammete" übersetzen? Es sind Baumwollstoffe mit besonderen Oberflächen; deutsch Samt oder Sammet, englisch velvet, französisch velour. Behannt ist auch die Redensart "In Samt und Seide". Und Seiden-Sammete sind seidig erscheinende Baumwollstoffe mit. Samt ist übrigens ein uralter Stoff – schon im Mittelalter bekannt und beliebt. Wahrscheinlich stammt sein Ursprung aus Konstantinopel, heute Istanbul genannt. Und die Türkei lässt man nicht in die EU – typisch, aber ihre Erfindungen sind bei uns Kult. Döner Dir einen.

Gebrüder Alsberg war eines der "führenden Warenhäuser" der Stadt.

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Heilsversprechen bei Krankheiten – auch so alt wie die Krankheiten selbst. Medizinisch interessant, dass Amol zugleich bei Hexenschuss und Kopfschmerzen helfen soll – der Trick dabei ist, dass es gar nicht gegen die Krankheit hilft, sondern sie zu verhindern sucht. Kamelitergeist aber ist, muss man wissen, konzentrierter Schnaps. Alkohol gegen Kopfschmerzen: man sieht, Quacksalber früher und heute, sie sind alle aus dem gleichen Holz geschnitzt. Zur Risiken fragen Sie Ihren Arzt oder einen Journalisten (kennen Sie den kürzesten Witz der Welt? – Geht ein Journalist an einer Kneipe vorbei .... // Und jetzt bitte lachen).

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 Zum Apollo-Theater nach Düsseldorf? Halt, hiergebleiben! In Solingen gibt es auch eins. Gab, leider. Das aber bot alles, was die weite Welt des Celluloids (für ganz junge: das ist das brennbare Zeug, auf dem früher die Bilder im Streifen waren, die durch einen Projektor liefen. Diese Filme konnte man zwar saugen, aber nicht aus dem Netz, sondern nur ein. Im Kino.) Was heute die Boygroups sind, waren früher die Filmschauspieler, sie machten die Mädchen verrückt – oder kreuzweise umgekehrt die verruchten Damen vom Film die lüsternden Herren im Rasiersitz (erste Reihe, billigster Platz). Wenn denn noch gar Gar el Hama kama, dann orientierte sich alles am Orientalen. Instinktiv zum Detektiv – man dränge am Nachmittag, weil's abends knüppelvoll wird.

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Political Correctnes war noch nie deutsche Tugend: Schwarze sind Neger, Künstler Zigeuner, und Beleuchtung wird den Bengalen zugedichtet (wahrscheinlich, weil sie aus Angst vor den gleichnamigen Tigern die Taschenlampe erfunden haben *g*). Wenn ein Kino Schlager anpreist, dann sind dies keine Lieder, sondern "Knüller", heute Blockbuster oder biederer Zugnummer genannt, halt das Highlight beim Event.

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 Sonder-, Ramsch- und Saison-Verkäufe, alles schon so alt, wie die Kassen klingeln. Und das nicht nur zur Weihnachtszeit, aber da – früher wie heute – im besonderen Maße. Gewissermaßen der Weihnachtsmarkt unterm Dach. So alt wie die Solinger Kaufhäuser.

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Billig, billig. Die Käufer sind willig. Einst wie jetzt.

Vor allem, meine Damen, man gewöhne sich mal an, die Strumpfhosen nicht immer gleich wegzuschmeissen, wenn man rausgewachsen ist. Nachlängen ist angesagt (das könnten manche Pullover von heute gut vertragen; je dicker die Bäuche, desto kürzer die Oberteile).

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Und wir dachten immer, Weißbier – bayerisches – zu trinken sei neumodischer Kram, mitgebracht aus den Urlauben. Nein, auch vor 100 Jahren schon war der Ruhm bayerischen Bieres bis nach Solingen geschäumt und Markenpflege über den unmittelbaren Bezug zur produzierenden Fabrik gab es auch schon längst: Ohligser Pils (O.P.) von der Solinger Brauerei Beckmann (seinerzeit waren dies noch zwei getrennte Städte). Und im übrigen maß sich Solinger Gesöff noch an, gegen echtes Pils anzustänkern.

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 Markenkleidung ein Ding von heute? Mitnichten, nur waren die Marken damals nicht global, sondern eher lokal. Aber von C. Artmeier gekleidet zu sein (siehe Bild), hieß, total hip zu sein. Mit Schirm, Charme und Melone. Und unerreicht preiswürdig noch dazu; so eine Art H&M der frühen Jahre ...

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Geld als ein Muss? Schon damals keineswegs so. Naturalientausch auf Solinger Art: eine Glasfabrik bietet an, Christbaumschmuck gegen allerlei Solinger Spezialitäten abzugeben. Fast schon ein eBay-Vorläufer ...

Heute im Fernsehen, damals in der Zeitung: die obskuren Versprechen der Hellseher und anderer Gaukler ....

Die üblichen "Damenleiden" galt es noch diskret zu behandeln. Erröten war Pflicht.

Muscheln ohne Kühlung: na, dann guten Appetit.

Konkurrenz um den billigsten Preis, ein uraltes Ritual; heute noch so beliebt wie vor einem Jahrhundert (und davor).

Kleinfleisch – ein wenig erinnert es heute an Begriffe wie Gammelfleisch ...

Hübsch vor allem der Gedanke, aus Solingen könnten Affen stammen, Genoveva-Affen nämlich, und das auch noch mit beweglichen Gliedern ...

Frau Sorgenicht will wohl doch den Frauen Sorge machen, mit Damen-Zigaretten, Juck- und Nieß=Pulver sowie explodierenden Zigaretten. Damals zu kaufen wie heute noch zu haben.

Reichtumsversprechen, heute die üblichen Maschinen von Drückerkolonnen und dubiosen Anzeigen, sind so alt wie die Zeitungen selbst.

 

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Heute sind es die Orientteppichgeschäfte, die systematisch, sprich planmäßig ihre Lager räumen und dafür Sonderverkäufe machen. Seinerzeit waren es wohl die Tapetenläden, die für den Christbaumschmuck Platz brauchten. Die heutige Manier, fast zu verschenken, war vor hundert Jahren auch schon Usus: Spottpreise nannte man diese Schnäppchen.

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"Dumme Sprüche", nervende Banalitäten in der Werbung, heute so mühsam zu ertragen wie vor einem Jahrhundert. Wenn hier Kathreiner, der Malzkaffee mit dem Slogan "Der Gehalt macht's" wirbt, so muss das heutige "Die Milch macht's", vielleicht sogar von einer Solinger Werbeagentur kreiert, fast schon wie eine Anlehnung an frühere Zeiten klingen. Oder, da das Plagiarius-Museum demnächst in Solingen seine Pforten öffnet, durchaus als eine Nachahmung empfunden werden.

 

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 Bei Ausländern kaufen? Nein danke, durfte man damals vor gut 100 Jahren noch ungeniert sagen, ohne dass es anstößig gewesen wäre. Im Gegenteil, Deutschtum war absolut in und entsprach dem Zeitgeist. Deutsche Wertarbeit, dieser Mythos wurde seinerzeit bewusst und intensiv gepflegt.

Und alle "modernen Verführungen" wie Kauf auf Raten, Geld-zurück-Garantie und ähnliches schon vor 10 Dezennien so üblich wie heute.

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"Kitsch as Kitsch can", dieser verballhornte Slogan trifft hier voll zu; Gott Amor selbst drückt auf den Auslöser; so etwas steht einer Lehr- und Versuchsanstalt natürlich gut an. Da scheut man doch keinen billigsten Preis.

Kann ja sein, dass heutige Konflikte mit dem Islam in Verbindung gebracht werden, aber religiös motivierter (politischer) "Klassenkampf" war schon immer Usus, auch in Solingen.

Wenn man bedenkt, dass Butter heute umgerechnet nominell kaum mehr kostet, war Butter für damalige Otto Normalverbraucher fast unerschwinglich. Lebensmittel-Derivate (Ersatzmittel) ensprechen der Tugend, die aus der Not gemacht wird; damals wie heute.

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Damals wie heute: Schimmel an den Wänden. Heute heisst es, die Fenster seien zu dicht. Und woran lag es seinerzeit? Man sieht, die Probleme bleiben, die Erklärungen wechseln.

"Learning on Demand", berufsbegleitende Qualifizierung, auch weit vor dem modernen Berufsstress Usus; allerdings auf höchst anständige Art: Damen und Herren wurden getrennt unterrichtet (waren die früher denn so hemmungslos, das man sie trennen musste?)

Lockvogelangebote nennt man es heute. Wie es früher hieß, bleibt unbekannt.

Gammelfleisch statt Hammelfleisch ???

 

Spikes für Pferde, nun ja, heute heißen die Pferde eben Auto; geblieben ist die Idee, sich in Eis und Schnee zwecks gutem Vorwärtskommen festzukrallen.

Und abermals allerlei Heilsversprechen.

Handel mit Erfindungen, Rechten und Patenten, vor Jahrzehnten schon so üblich wie in unseren Tagen.

Heitmanns Farben gibt es auch noch heute – alles ist so geblieben, außer der Farbe, denn die soll ja wechseln.

Fräulich Frischruths Gänse sind die fettesten. Na, dann ist doch alles in Ia Natur-Butter. Und Lebensmitteltransporte quer durch Europa ein neues EU-Phänomen? Vergessen Sie's doch. Vor hundert Jahren ließ man sich die Butter aus Schlesien nach Solingen schicken! Einzeln !

 

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Innungen, eine Art Geschlossene Gesellschaft aus den Handwerkerzünften des Mittelalters stammend, im deutschen Recht verankerte Berufs- und Unternehmer-Vereinigungen, waren um diese Zeit (bis ins "Dritte Reich") zugleich auch Regulierungsbehörden für Preise und Marktkonditionen. Was also heute teils vom Staat vorgeschrieben, teils von der EU bekämpft wird (Kartelle, Preisbindungen), sind also eine "uralte" Sache. Preisverzeichnisse nannte man früher die Entlohnungstarife (nicht auf Zeit-, sondern Stückbasis).

Drama um eine Zigaretten-Arbeiterin? Da fällt einem ja wohl sofort "Carmen" ein. Das Central-Theater war eines von sehr vielen Kinos in Solingen; es gab also sehr wohl ein Leben vor dem Cinemaxx – und was für eins!

Hähnchenmastskandal? Auch dies ist kein Unikat der Jetztzeit. Mastegefüttert wird schon lange. Nur damals waren die Kontrollen noch nicht so scharf und so chemisch. Und Käfighaltung bei Hühnern ist auch nichts akut Aufgekommenes, früher wurde dafür offen und frei geworben. Mastfutter macht's möglich.

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 Alles kommt unter den Hammer, alles muss raus, alles muss weg, Zuschlag zu jedem akzeptablen Preis – dergleichen heutige Sprüche haben ihren Ursprung in der Handels-"Antike"; auch Solingen war und ist keine ramsch- und raus-freie Zone.

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