Solinger Generalanzeiger 1910 - 2

Dass nichts neu ist, ist auch keine neue Erkenntnis: "Wer kann was Gutes, kann was Schlechtes denken, was nicht die Vorwelt schon vor ihm gedacht", sagte einst Johann Wolfgang von Goethe (der leider nie in Solingen war; sein Fehler). Aber recht hat er allemal. Liest man heute die Zeitung, so erfinden wohl in der Tat vor allem die, die sich öffentlich zu äußern nicht genieren (in Bayern nennt man sie die "Großkopferten"), das Rad zum x-ten Mal. Schaut man zurück, so wird Fort-Schritt sehr relativiert. Wenn alles schon mal da gewesen sind, können heutige Gedanken wie Lösungen so neu nun auch nicht sein – und folglich ist in Solingen manches "so wie früher", um nicht zu sagen, ist die Zeit stehen geblieben. Das muss nicht negativ sein. Nur leidet die Lokalpolitik unter einer Art kollektivem Alzheimer. Sie kann sich nicht mehr daran erinnern.

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Musik spielte schon immer in dieser Stadt eine wichtige Rolle und das Kulturleben war und ist (auch heute!) vielfältiger und lebendiger, als es das Vorurteil wahr haben will. Selbst wenn sich der alternative Kulturveranstaltungs-Verein, der die "Cobra" betreibt, "Die Provinz lebt" nennt, so nicht deshalb, um zu resignieren, sondern um zu aktivieren: Ja, in dieser "Provinz Solingen" sind "seit alters her" die Musen beheimatet. Sie zu unterstützen und zu fördern wäre also geradezu Pflicht.

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Das Bergische ist eine durchaus eifrige religiöse Landschaft. Von handfesten Auseinandersetzungen, ja sogar von konkreten Formen des Relisionskrieges (unter Anwendung von Gewalt und Gewehren) weiß die Geschichte zu berichten. Und Solinger Pfarrer waren nicht selten extrem streitbare Geschöpfe – oder schrieben sich die Frommheit von der Seele. Kinder, die nicht mehr angenommen werden, Flickstunden und Bibelstunden für Jungfrauen: bunt gemischt und stockeveangelisch.

Das Blaue Kreuz, einst einsame Kampfgemeinschaft gegen den Alkoholismus, heute extrem rührige Sozialvereinigung gegen Suchtkrankheiten (Schwerpunkte Alkohol und Drogen) mit Gründung und Sitz in der Nachbarstadt Wuppertal, geht aus christlichem (besser gesagt evangelischem) Fundamentalismus hervor und bietet eine alternative Form des Bibelstudiums: nicht Predigten, sondern Besprechungen und Diskussionen gibt es, ähnlich wie bei heut ebenfalls zahlreich vorhandenen evangelischen Freikirchen.

Ebenso war und ist die Heilsarmee aktiv, die auch heute noch in der Florastraße ihr Dominzil hat, so wie früher. Nun wartet sie schon nachweislich 100 Jahre auf die Wiederkunft Christi, aber, so lehrt uns die Bibel ja sinnsprüchlich, vor Gott sind eben tausend Jahre wie ein Tag.

"E.C." steht für "Entschieden für Christus", eine Art "Jugendbewegung", 1881 in den USA gegründet. Alle drei letztgenannten sind heute noch aktiv – was für die Qualität ihrer Botschaften und Arbeiten sowie für ihre Erfolge spricht. Genre lästert und lächelt "man" darüber; statt froh und dankbar zu sein, dass es sie gibt. Übrigens auch jeweils gut aufgemacht im Internet !

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Sieht aus wie eine Traueranzeige, liest sich fast so – und ist doch Reklame pur. Solche Art der "redaktionellen Anzeigen" oder der überraschenden Sujets ist heute ebenso modern wie es früher durchaus üblich war.

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Der Wahn mit der weißeren Wäsche – ein Produkt der Fernsehwerbung? Nein. Uralte Sache. So alt wie das Waschpulver selbst. Hier strotzt das allerweisseste des Weiß dermaßen, dass man fragt, wieviel Weiß in den letzten hundert Jahren denn noch dazuerfunden wurde – oder ob alles Schwindel war, Schwindel ist, Schwindel sein wird ...
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Als Rauchen noch chic und "in" war ...; ja, das waren Zeiten!
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Das Buntgemischte, die Kleinanzeigen (fach-englisch "classified" genannt) bietet an, was das damalige Leben charakterisiert: Schlafstellen, Ladenlokale, Brennholz, Ackergütchen und Dobermänner. Damaliges Leben? Ich lese solche Anzeigen auch heute jeden Tag in der Zeitung. Mit fast unverändertem Text. Denn Fräuleins für angenehme Schlafstellen darf man nicht mehr suchen und anständige Herren findet man angeblich nicht mehr. Allerdings die jungen Mädchen mit angeblichem Vermögen kommen nicht mehr aus Berlin, sondern von weiter östlich und Geld bringen sie nicht mit, sondern wollen es haben.


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Eine etwas anders gestalte Anzeige mit Anklänge an Jugendstil und einem ersten Hauch späterem Bauhaus. Schade, dass die Herren Kollegen Setzer so geschludert haben: man beachte die verrutschte Linie links neben "Hut". Wer es nicht mehr weiß, also an die hundert ist, "Modes" ist das gleiche wie "Mode", nur echter und ursprünglicher, nämlich original französisch. Aber "la mode" war nicht nur immer schon teuer, sondern wurde auch immer schon gleich wieder verschleudert.

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Ach nee, guck mal an. Kennt man es heute nicht nur allzu gut? Und die Ur-Ur-Oma kannte es auch schon!


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Und auch Palmin, noch heute im Gebrauch, hat schon den Altvorderen Nachbars Katze geschmort .... *g*


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Da weiß man, was man hat, und das wussten auch schon die Solinger Waschfrauen damals. Blendend weiße Wäsche hatte man, weißer geht's nicht, oder doch?! Wem es noch nicht weiß genug war, der machte auf bleich mit Henkels Bleich-Soda.
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Einen Lehrling zum Ausmachen gesucht. Keine Angst, der Kerl sollte nicht umgebracht werden, sondern das Handwerk des "Fertigmachers" erlernen.

Der Henckels-Clan beschränkte sich nicht nur auf das Zwillingswerk.

Lust und Lehrlinge – manche meinen, heute ein seltene Kombination, was aber nicht stimmt.

Ordentliche jüngere Mädchen – ja, die sucht heute ebenfalls so mancher. Vergeblich.

Leihmutter gesucht? "Mädchen zum Austragen?". Nee, keineswegs, sondern Anwerbung einer Liëwerfrau.


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Was Patente und Hühneraugen sind, mag man ja noch ahnen. Aber eine Phrenologin? Die auch nur nachmittags zu sprechen ist.

Es ist die heute als irr- und unsinnig bewiesene "Lehre", dass die Intelligenz oder der Charakter von Menschen an der Schädelform abzulesen sei. Der berühmte Solinger Dickkopp also möglicherweise wirklich ein dicker Kopf zu sein habe – und umgekehrt.

Eine willkürliche Anwendung der Phrenologie war später Bestandteil der leidbringenden nationalsozialistischen Rassenideologie.


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