Solingen ist schön (1)

Solingen sieht ja aus wie ein nettes, schuckeliges und total schönes Dorf. Mit diesem Satz wollte mich neulich eine Bekannte ärgern, die für ihre Kritik berühmt ist. Sie meinte, da hätte ich ja wieder ein paar Bild eingestellt, auf denen Romantik und "Kitsch pur" den Bildschirm runterrieselt. Nun, das war zuviel – prompt erwiderte ich ihr trotzig: "Solingen ist ja auch schön. Ist es auch. Ist es wirklich". Und weil ich es nicht bei Worten bewenden lassen wollte, schnappte ich mir flugs den Fotoapparat und fuhr mal einige Kilometer durch die Gegend (Wandern hätte man auch können, aber das bringt keinen nennenswerten Beitrag zur globalen Wirtschafts- und CO2-Entwicklung). Alle Fotos, die Sie nun sehen wollen, müssen, können, sind "Schnappschüsse"; nichts gekünstelt, nichts gestellt, nichts extra ausgesucht.

Die Tour ging von Ketzberg nach Gräfrath, Nümmen, Eschbach, Nordpol, Wasserturm, Bot. Garten – sozusagen einmal rings um und mitten durch den Gräfrather Klostergarten.

Und ich bleibe bei meiner Behauptung: SOLINGEN IST SCHÖN.
Denn wo gibt es sonst noch ...

 

Wo gibt es sonst noch ...

einen schützenden Taleinschnitt – nämlich das an vielen Stellen gar nicht so unsteile Tal der Wupper – zum fremden Nachbarn, beispielsweise Wuppertal. Und dennoch ist die Optik so, als wäre man ein und dasselbe. Die Kluft, die Solingen von Wuppertal trennt, ist so tief, dass sie alle Versuche, aus den drei Städten Solingen, Remscheid, Wuppertal eine einzige zu machen, ohne Aussicht auf Erfolg ist. Aber die Kluft, das Tal der Wupper, ist gleichzeitig so schön, dass es Menschen aus allen Regionen anzieht, um hier zu Wandern oder eine Bikerpause einzulegen. Ach ja, erkennen Sie, in der Schönheit dieser Landschaft, dass Sie soeben auf eine Müllverbrennungsanlage schauen, die dort am Wuppertaler Horizont die Landschaft unterbricht? Sehse, wie Sie sehen, sehen Sie nichts.
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Wo gibt es sonst noch ...

gibt es Knaatsch, Streit und Querelen um ein Windrad, dass auf hiesigem Hügel, symbolisiert durch das Stoppelfeld, nicht gebaut werden soll, darf, kann, aber jenseits der Wupper munter seine Flügel dreht. Jedenfalls haben es die Gräfrather geschafft, ihren Beritt drehflügelfrei zu halten, was aber nicht heisst, dass so mancher Gräfrather doch hin und wieder mal durchdreht oder durch den Wind geschossen sein könnte. Oder sein Mäntelchen nach dem Wind hängt, der in Ketzberg immer reichlich weht. Geographisch-meteorologisch bedingt. Das Gebiet heisst übrigens "zum Holz", obwohl es inzwischen eben viele ackerkahle Flächen statt ewig singender rauschender Wälder gibt (das Grüne drüben ist nämlich schon Wuppertal, igittigitt).


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Wo gibt es sonst noch ...

sieht man nicht nur eine, sondern gleich zwei Nachbarstädte nebeneinander am Horizont? Das hier ist der Blick auf Remscheid. Was für Solinger so viel bedeutet wie Ostfriesland für die Bayern – fernes, unzivilisiertes Land, von dem man nicht weiß, ob die Menschen dort nicht noch Kannibalen sind. Jedenfalls sind es Bergische, aber das verbindet auch nur so, als ob man Schweizer für umgewidmete Österreicher hielte (immerhin wurden sie mal wirklich von Habsburg regiert. Das Bergische Land übrigens von den Bayern, und das ernsthaft und wirklich und durchaus einige Zeit). Remscheid hat ein kitschiges Rathaus, dessen Turm nicht abgerissen wird, weshalb es seine Silhouette behält, was mit Solingen, dank Turmzentrum-/Karstadthochhaus-Abriss nicht der Fall ist.


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Wo gibt es sonst noch ...

Wohngebiete und Ortschaften, die man – warum auch immer – meistens in kleinen Senken versteck oder so auf den Hügel baut, dass man immer nur die Hälfte davon sieht. Vielleicht eine alte Kriegstaktik, um vorbeiziehende marodierenden Horden zu täuschen und sich als unbedeutend zu tarnen. Abgesehen von der Tatsache, dass zig zehntausende Solinger so gut wie ohne Anschluss mit öffentlichen Verkehrsmitteln leben müssen, wohnen sie idyllisch im Grünen. Und ganz hinten die Wuppertaler und Remscheider auch. Immerhin das.


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Wo gibt es sonst noch ...

wehrhafte Dorfkirchen, die nur deshalb zu entdecken sind, weil man ihnen eine veritable Spitze verpasst hat. Die evang. reformierte Cronenberger Zwiebelturmkirche (irgendwie mit einem Anklang an bajuwarische Sitten) protzig im Mittelpunkt und etwas versteckt und bescheidener die evangelische Emmaus-Kirche. Wuppertal ist die Stadt mit den meisten religiösen Aufsplitterungen und Gruppierungen Deutschlands bezogen auf die Einwohnerzahl. Schon allein deshalb gelten Solinger dort als Andersgläubige.


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Wo gibt es sonst noch ...

eine solche Wohnlage mitten im Grünen und dennoch praktisch mitten in der (Groß-)Stadt; und um der Gerechtigkeit die Ehre zu geben, zur Bushaltestelle sind es auch nur 10 bis 20 Minuten zu Fuß. In der Mongolei gälte das als "Bushaltestelle direkt im Wohnzimmer". Aber eben, dies ist nicht die Mongolei und auch keine Mogelei, das ist echt und viel zu schön, um nicht wahr zu sein. Idylle pur. Eben: Solingen ist schön.


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Wo gibt es sonst noch ...

gibt es Friedhöfe als Park oder Parks als Friedhöfe; solche sind im ganzen Stadtgebiet zu finden. Nicht nur, dass der Solinger an sich Zeit seines Lebens schön wohnt, nein, er ruht auch schön in Frieden an der frischen Luft in der Modergruft. Da hebt sich der Unterschied von Leben und Tod auch ohne religiöses Gedöne (wie es die Wuppertaler wohl brauchen) auf; der lebensphilosophisch-pragmatische Soinger sucht sich sein Grab schon rechtzeitig nach dem schönen Ausblick aus. Es gibt – und ich kenne – nicht wenige, die sich in der Tat eine Grabstelle kaufen, die so gelegen ist, dass sie auch gerne darauf ein Kleingarten-Haus errichten würden. Egal, ob über oder unter der Erde, das Leben in Solingen ist schön, und dort auch das nach dem Tode.


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Wo gibt es sonst noch ...

Wege, die keiner geht, weil keiner geht und alle bleiben? Wege, die auf direktem Wege nach Hause führen, zurück in die heimelige Wärme der Fachwerkstube. In die Fremde zu gehen scheut der Solinger ein wenig, es sei denn, es herrsche a) eine Hungersnot (aber so weit ist es noch nicht) oder b) es wäre Urlaub – aber da sagt sich der Solinger wiederum auch, es ist hier so schön, warum soll ich denn überhaupt wegfahren? Dieser Konflikt wird meist gelöst, indem man ein wenig weg fährt, aber ganz billig, damit noch Geld übrig ist für das Garten-, Pöhlchenschieten-, Hahneköpper-, Hofschafts-, Pött-, Schützen-, Gartenvereins- oder Siedlungsfest zu Hause. Geizig ist der Solinger nicht unbedingt; aber wenn er schon Geld ausgibt, dann will er dafür auch etwas Essen und Trinken.


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Wo gibt es sonst noch ...

mitten in der Landschaft und dann auch noch am allerhöchsten Punkt der Stadt außergalaktisch schöne Gebäude, die ein Kunstwerk sind und – für Solinger Verhältnisse Gott am nächsten – demzufolge Lichtturm heißen? Und das dort, wo sonst Rindviecher ihren Dünnschiss ablagern oder Damhirsche den Elefantenohrhasen zusehen, Lamas um die Wette spucken und Löffelreiher zwischen Buntbauchzwergfuß-Enten stolzieren. Des Rätsels Auflösung: der Lichtturm des Lichtkünstlers Dinnebier, ehemals Wasserturm (der Turm, nicht der Künstler) steht neben dem kleinen, aber ungemein engagierten Tierpark Fauna. Und dem ehemaligen Altersheim, das nun ein Jugendheim ist (meist ist das ja umgekehrt).


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Wo gibt es sonst noch ...

Zufahrtsstraßen zur Großstadt-Innenstadt, die in großer Zahl (in Worten: in großer Zahl !) so (!) aussehen? Nicht, dass sich auf solchen Straßen nicht zwei Autos begegnen können. Aber eines muss stehen bleiben. Sonst gibt es garantiert Schrammen. Und wehe es kommt ein Bus ! Sie haben doch jetzt wohl nicht angenommen, auf diesen – auf solchen – Straßen führe kein Bus? Und ob hier einer fährt. Wo dann die Autos hin ausweichen? Na, in die Büsche nicht, dann sähen die zerrupfter aus. Aber 500 Meter rückwärts fahren, das haben sie drauf, die Solinger. Denn wo und wann ginge es in Solingen mal nicht rückwärts zu, wenn es auf den Mittelpunkt angeht?


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Wo gibt es sonst noch ...

werden Jugendliche so süß ums Maul geschmiert, dass man ihnen gleich ein Wohnheim baut und sie lernen, sich die Bonbons selbst zu kochen? Weil ein Herr Hillers nahebei mal auf die Idee kam, Pfefferminzdrops zu fabrizieren, hat Solingen nun als Erbe Deutschlands einzige Süßwarenfachschule. Wann immer also in Deutschland systematisch Karies herangezüchtet wird, in Solingen habens die Zurckerbäcker gelernt. Dass die Alten wegzogen (nach Höhscheid, in die Ferne) machte das idyllisch im Wald gelegene Altersheim frei für die Jugendlichen, die ja, so ließ ich mir neulich sagen, in nicht wenigen Fällen durchaus gleiche Betreuung benötigen wie die Senioren – sie wollen umhegt und gepflegt sein, sonst werden sie trotzig und spucken die Ecstasy-Pillen wieder im hohen Bogen aus, wie saure Drops.


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