Ab in die Mitte (1)

Politiker neigen zum Schwafeln. Täten sie es nicht, bräuchten sie sich ja nicht politisch betätigen, sondern könnten sich an normalen Gesprächen beteiligen. Und so fiel es der geballten Ideologie-Macht Solinger Regierungskreise nebst dem Einzelhandelsverband ein, das hoch subventionierte Spektakel Umbau Neumarkt / Graf-Wilhelm-Platz (OB Haug im Originalton: "Wir haben dies nur unter Beteiligung Dritter geschafft", aha) als "Solingens neue Mitte" zu verkaufen. Denn der Verband der frustrierten Händler hatte gerade die Aktion "Ab in die Mitte erkoren". Und so wurde eine notdürftig fertig gestellt Baustelle zum Volksfest zu machen, das am letzten Wochenende der Sommerferien 2007 die Normalität unterbrach.

Eine Reportage mit bildlichen Impressionen, wie sie der Zufall trieb und Kommentaren, wie ich sie schrieb.

 

Bei Lichte betrachtet sind die selbstbeweihräuchernden, großspurigen Reden, die vor allem dem allmählich zur trotzigen Selbstherrlichkeit neigenden Solinger Oberbürgermeister Franz Haug entfleuchten, eine Mischung aus Frechheit und purer Verhöhnung (leider merkt das der Mann nicht mehr, weil er – wahrscheinlich als einziger – davon überzeugt ist, was er sagt. Der Rest hört ihm zwar nicht zu, heuchelt aber gerne solches).

Da werden wenige hundert Meter Straße umgebaut, ein gar nicht mal so großer Platz mit Steinplatten belegt und ein paar rostige Blumenkübel draufgesetzt – und das offizielle Solingen tut so, als wäre hier ein Bauwerk geschaffen worden, welches die Stadt noch nicht gesehen hat. OB Haug jubelt, "endlich" sei Solingen wieder in seiner Mitte angekommen. Ja, lieber Franz, wer wohl hat denn mit einem Obus-Park- und Dieselbus-Wendeplatz den Solingern ihren so geschätzten Neumarkt geklaut? Die gleichen Politiker, die heute so tun, als hätten sie der Stadt mit dem Geld aus fremden Kassen eine persönliche Wohltat erwiesen.

Aber der Reihe nach:


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Um was geht es denn überhaupt? Eigentlich darum, dass man mit der "Busbanane" wieder das gemacht hat, was schon einmal gewesen war und später abgerissen wurde. Nämlich einen Zustieg auf der Mitte der Fahbahn. Nur diesmal so schmal, dass man mit einem Kinderwagen kaum um die Pfeiler kommt. Dafür konnten die Busbahnsteige auf dem alten Neumarkt aufgegeben werden und der Platz kann wieder das werden, was er früher immer war, Marktplatz.

Ein Umbau, der unter normalen Umständen in ein paar Wochen abgeschlossen sein kann. Der in Solingen aber satte 4 Jahre dauerte. Wahrscheinlich sagen sich Rat und Verwaltung, Solingen ist für die Ewigkeit gebaut, dann darf es auch eine Ewigkeit dauern, etwas zu bauen.


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Schön ist wenigestens, dass man nun kreuz und quer über "den Dreieck" (es heißt nicht "das Dreieck") laufen kann, weil die Autos aus der Innenstadt fast verbannt sind, aber trotzdem nach dem Willen der Kommunalpolitiker alle Solinger dort ihre sämtlichen Einkäufe erledigen müssen, weil das so nun einmal Beschlusslage ist. Denn schließlich müssen die Einzelhändler der Innenstadt geschützt werden, so die Meinung der Volksvertreter. Wovor, können sie meist nicht sagen.

Aus dem Dreieck, wo sich Kölner Straße und Ufergarten treffen, wurde ein Kreisverkehr. Aber dass es nun in der Stadt rund läuft, ist damit noch lange nicht gesagt..

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Finanziert wurde der Umbau durch den Strukturförderungs-Font des Landes Nordrhein-Westfalen, so eine Art landesinterne Entwicklungshilfe. Das Warndreieck der Regionale hat uns nun gute 8 Jahre als Idee, Plan und Ereignis-Reigen begleitet. Auch der "Südpark" (also der alte Hauptbahnhof) mit all den massiven Umbauten, die Korkenziehertrasse und der Müngstener Brückenpark sind Regionale-Projekte. Summa summarum: Ja, die Aktion war ein großer Erfolg, denn sie hat etwas in dieser Stadt bewegt. Allerdings zeigte sie auch, aus eigener Kraft hätte es diese Stadt nie und nimmer geschafft. Die Kommune ist also ihrerseits ein Sozialhilfe-Empfänger, auf Unterstützung Dritter angewiesen.




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Wer auch immer diese Idee hatte, sie ist einer der besten Gags, die Solingen seit langem erlebt hat: viele dutzend Portraits der Bürger dieser Stadt prangen für einige Zeit von der ansonsten abweisenden und gesichtslosen Riffelfläche des Kaufhauses, das noch – wie lange noch? – von Karstadt betrieben wird. Übrigens, Tipp für Solinger: Mal eine Nacht im Turmhotel buchen und sich die eigene Stadt von oben angucken. Das gibt ganz neue Perspektiven.


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Ja, ist denn schon Beach-Party? In der Tat. Die Stadt hat allen Sand, der sonst im Getriebe knirscht, zusammen gekehrt und zu einem Haufen aufgeschüttet. Wem Mallorca zu besoffen, die Kanaren zu abgebrannt und überhaupt die ganze Fliegerei total lästig ist, der kann nun mit Kind und Kegel in Solingens Neuer Mitte einen Strandurlaub verbringen. Die Klamotten dazu bekommt man gleich hinten bei C&A.

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Gleichzeitig hat, still und heimlich, keiner hat es gemerkt, die Stadt der Bevölkerung das neue Bäderkonzept "untergejubelt". Im politischen Sturmwasserglas steht nämlich gerade das Stück "Wir überlegen uns, wie wir die Freibäder schließen können" auf dem Spielplan. Während man die Bevölkerung im Glauben wiegt, man würde darüber noch ernsthaft reden, wurden längst Tatsachen geschaffen: mit pflegeleichten Aufblasbecken mitten auf dem neuen alten Neumarkt wird ein "Mobiler Badedienst" geboten. Scheint mal die Sonne, werden die Becken geöffnet. Die übrigen 360 Tage des Jahres kann man sie noch als Hüpfburg benutzen.


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Die entsprechende Wasserinstallation wurde auch schon verlegt. Sie ist von handwerklich hervorragender Qualität, selbst die Löcher im Haushalt wurden bei der Planung und Ausführung genügend berücksichtigt.

In Afrika basteln sich Kinder aus lauter Armut Spielzeug aus weggeworfenen Getränkedosen. Fotografiert, kann man mit diesen Szenen so viel Mitleid erregen, dass ordentlich Spendengelder fließen. Solinger Kinder müssen sich mit wackelig installierten billigen Platikwasserrohren be- und vergnügen. Man nennt dies dann mobile Kinderbetreuung oder so ähnlich – woanders läuft dies unter dem Begriff Entwicklungshilfe. Was dort pure Armut ist, soll nach Willen der studierten Sozio-, Päda- und Ideologen den Kindern hierzulande als mentaler Input zu einer glücklichen Kindheit verhelfen. Da schaut die Logik aber arg in die weit geöffnete Röhre.
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"Kannst Du mir mal was pumpen?" fragt der Solinger im Alltagsdeutsch, wenn er etwas geliehen haben möchte. Eltern zum Beispiel, die sich Kinder öffentlich geräumt spielmobiler weise hier leihen können, offensichtlich. Oder, Sprache kann tückisch sein sollten die Solinger zu asexueller Vermehrung übergegangen sein und sich, statt per ächzenden, kreuzschmerzen-verursachenden Bewegungen und klebrigen Schweinereien mühsam kleine Kinder zu machen, diese ganz einfach gewinnen? Habe ich doch schon oft stolze Eltern sagen gehört, mit ihrer Tochter oder Sohn hätten sie "das große Los gezogen" (oder auch nicht). Kinder, so heisst es ja auch immer, seien ein Gewinn im Leben. JETZT ENDLICH weiß ich auch warum. Jmob.de sei dank und der Solinger Fähigkeit, "ut nix jet to maken".
Michael Tettinger hat dieses Schmankerl der gepflegten bürgerlichen Erziehungskultur entdeckt und mit seinem Bildpixelapparat festgehalten.
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Im Rahmen der nicht enden wollenden Rechtschreibreformdiskussion: Kann man mir einmal jemand sagen, warum das von Kindern deutlich mit hartem Konsonanten und kurzem Vokal ausgesprochene "Pappa" und "Mamma" immer noch mit einem p bzw. m in der Mitte geschrieben wird und wir Stop als Stopp oder Tipp statt Tip schreiben müssen? Oder gibt es in Solingen nur Paapas und Mahmas? Da kringelt sich doch das Schwänzchen, wie auf dem Bild zu erkennen ist.

Selbst die Clemenskirche guckt da von weitem verwundert auf buntes Treiben am "Grafen", wie im Neuklug-Slang der Graf-Wilhelm-Platz genannt wird (der offizielle Nameklingt ja auch irgendwie breiig und sämig). So viel Förderung ist den Solinger Clemens-Zuckerhüten suspekt, obwohl, nomen es omen, Solingers oberster und rühriger Entwicklungsförderer Bernd Clemens heisst. Aber alle unter einen Sonnenschirm zu bekommen, das fällt auch ihm oft schwer.




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Solinger Kinder lernen für's Leben. Während zur Zeit ein weltweit unterstütztes Projekt läuft, jedem afrikanischen und aus anderen unentwickelten Ländern stammenden Kind für maximal 100 Dollar einen echten Computer zu ermöglichen, werden die Solinger Kinder auf ihre Beförderung vorbereitet. Kein Rollenspiel, aber eine Rollenbahn ermöglicht ihnen rasches Vorwärtskommen, so dass die Eltern ihnen hinterherspurten müssen.
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... Und deshalb heisst es auch für manches Kind "ab in die Kiste", während sie am anderen Ende mit offenen Armen empfangen werden. Na ja, solange sie nicht offen von Armen empfangen werden, ist es ja auch was. Der Herr rechts ist allerdings noch unschlüssig, ob er mit seinem Snowboard auch in die Kiste passt. Ich fürchte, nein.


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Es gibt, auch in Solingen, geschlossene Anstalten für Kinder und Jugendliche. Da ist es doch gut, wenn sie auch im öffentlichen Raum (in welchem Gebäude ist der – und, ist der im Winter gut geheizt?) anzutreffen sind. Das Schild sagt klipp und klar, wie in Solingen Politik gemacht wird: man beauftragt einen Bedarf. Wie das geht, weiß ich nicht, aber jedenfalls ist die Kinderfreundlichkeit schon dadurch garantiert, dass, laut Schild, Projekte begutachtet werden. Au wie fein.

Ich weiß nicht, wo Ihre persönliche Schmerzgrenze beim Sprachgefühl liegt, aber mich krümmt es bei diesem Geschwafel und Gesülze, das auf verwaltungs-internen PowerPoint-Charts ja geduldet werden mag. Aber als Plakat im öffentlichen Raum zur Begutachtung durch kinderfreundliche Städter, um im Jargon zu bleiben, na – ich weiß wirklich nicht !
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Wie schpiek wandervull inglisch änd ßäht werri perrfeckt. Bikohs ju mast not sei schtrietwörking, itt iss inaff, wenn ju ohnli schtrietwörk ßeis.

Traurig nur, dass hier in Solingen Jugendliche arbeiten müssen – als Wanderarbeiter, also mobil. So wie früher die Tagelöhner oder heute die Erntehelfer-Polen. Oder was sonst sagt die Worthülse "Mobile Jugendarbeit"? Vielleicht die Auferstehung des früheren Wandergesellen, der von Stadt zu Stadt, von Meister zu Meister zog. Hier im jmob.de ist er gut beraten, bekommt der doch Angebote. Früher hat man Kinder ganz einfach glücklich gemacht. Heute beugt man sich schützend vor sie vor.

Was man von einer Markt- und Eventplatz-Eröffnung nicht alles lernen kann, nee, nee.




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Was haben Schinken, Salamis und Solinger Jugendliche gemeinsam? Sie hängen ab. Falls sie das mal nicht mehr wollen, können sie sich clearen lassen. Was immer das auch sein mag. Wahrscheinlich eine Behandlung durch die "alles klar"-Behörde. Einerseits ist diese Arbeit nicht nur notwendig, sondern vor allem sinnvoll und über alle Maße lobenswert. Dass sie sich allerdings optisch so präsentieren muss, als ginge es um die Abklärung von Testament, Beerdigung und Erbschaftsangelegenheiten, macht despressiv. Und führt zu non-cleared Fällen.

Von frappierender Kuriosität ist auch der Widerspruch, man habe Zeit für jemanden (was so klingt wie "massiv viel Zeit") – und das in der Bürozeit von 14 bis 16 Uhr vier Tage die Woche. Ist denn inzwischen die Bedeutung des Wortes "viel" geändert worden und ich habe es nicht mitgekriegt?




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Dagegen ist die Homepage der Clearingstelle ja wohl exakt das, was Jugendliche in Not sicherlich am meisten brauchen: die pure Leere. Wir haben Zeit für Dich, helfen Dir, heisst der Slogan. Und als einziger Text sagt die Homepage, man würde auf diesen Seiten jetzt die Arbeit der Clearingstelle und sich selbst vorstellen und bitte, dabei möge man viel Spaß haben. Ich bin immer wieder, ein übers andere Mal, wirklich aus tiefer Überzeugung beeindruckt, wie inkompetent und hilflos, ja sogar rotzfrech bürgerfeindlich man offensichtlich sein muss, um für die Stadt Solingen, die katholische Kirche und das (früher so genannte) Arbeitsamt zu arbeiten (das sind nämlich die Träger). Da haben wir in dieser Gesellschaft Probleme über alle Maßen, und die Clearingstelle bietet außerhalb der bescheidenen Öffnungszeiten an, man möge ein Kontaktformular ausfüllen, damit jemand zurückruft ....
Geistige Armut, Deine Heimat ist Solingen.
(Was aber der Gipfel ist: Kommunalpolitiker halten solche "Angebote" für ausreichend und gut und sind zufrieden in ihrer heilen Welt.)
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Doch seien wir fröhlich (OB Haug im Originalton bei seiner Einweihungsrede: "Das schöne Wetter zeigt uns, dass wir auf dem richtigen Weg sind" – er konnte gerade noch knapp vermeiden vor Begeisterung auszurufen "Der liebe Gott hat mitgebaggert", aber wahrscheinlich hat Erzengel Gabriel die Platten verlegt und der Stadtpatron Clemens aus Freude die steinernen Sitzbänke poliert) und schauen wir uns an, wie wir diese Stadt präsentiert bekommen: als ein Nichts in fröhlichen Farben. Und so ein keckes Nichts ist doch besser als gar nichts.

Dies sind die Staffeleien für den Wettbewerb "Mal Dir mal deine Stadt schön – denn noch schöner wird sie sowieso nicht, als in Deiner Phantasie" (übrigens, wer sich jetzt über diesen Satz aufregen will, sollte gaaaaaanz lange tief durchatmen und intensiv darüber nachdenken, wie wahr er ist).


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Denn, mal ehrlich: ist das nicht eine schöne, bunte Stadtlandschaft? Schade, dass es nur eine Staffelei ist ...


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Am Stand des Solinger Tageblatts gibt es was zu gewinnen. Klar, dass man da ansteht. Man kann sich ja sonst von der Rente nichts mehr gönnen.


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... derweil schon der Schattenmann am Werk ist und vom Himmel in den Höllenschlund steigt.


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