Totterblotschen (19)

Was ist Schönheit? Viele sagen, schön sei 'was anderes, wenn sie Solingen meinen. Ich sehe das völlig anders. Solingen ist als Stadt zwar nicht aufregend im gesellschaftlich-kulturellen Sinne, aber in der Vielfalt seiner optischen Aspekte eine Stadt, die man nie aufhört zu entdecken. Und was schön ist, soll auch so dargestellt werden. Ob es um Personen, Landschaften, Städte oder Objekte geht. Dass die Politik, die in Solingen gemacht wird, alles andere als schön ist, nun das ist eine andere Sache. Aber zuviel Schönheit kann man ja bekanntlich auch gar nicht aushalten.

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. Und vorne kommt das Vöglein raus ... .

Gregor Wundes hat im Familienablum geblättert und dabei fielen ihm alte Erinnerungen an seine Heimatstadt Solingen, seine Tanten und die gar gestrenge Frau Großmutter ein, die dem Enkel, dem kleinen Gregor, partout beibringen wollte, bei Tisch sützte man nicht gelangweilt den Kopf in die Hände. Ob es geklappt hat, verschweigt Herr Wundes, stellte aber diese Fotos zur Veröffentlichung zur Verfügung, wofür ihm Dank gebührt. So, und jetzt kann er sich wieder setzen, wie er will.

Die Aufnahmen stammen aus 1909, können also als hundertjährig gefeiert werden.

Dies hier ist die schöne Anna. Die wäre dann heute 120 Jahre alt – aber für DEN Hut bekäme sie in eBay eine schöne Beerdigung.

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Diese Dame hört auf den gar köstlichen Namen Ida Fridericia. Wie Musik klingt er, da kann Bernstein doch seine WestSide-Story Hymne auf den Simpelnamen Maria glatt wegwerfen für. Und wie sie schaut, so unschuldig, so rein, so sittsam und treu. En staats Weiht, wie man so sagt. Wahrscheinlich war sie ein Filou und ut hier nur im Photogr. Atelier so auf Unschuld vom Lande. Wer weiß, wer weiß.


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Solche Schriftzüge haben früher die Lithografen "frei Schnauze", aus der Hand gezeichnet. Ohne Vorlage. Und das sogar spiegelverkehrt auf Stein ! Oder es wurden Satzzeilen in einem komplizierten Umkopierverfahren verwendet. In jedem Falle: Stück für Stück eine Meisterleistung.

Die handwerklichen und prä-industriellen Fähigkeiten, mit denen Deutschland buchstäblich reich geworden ist, sind derzeit in einem dramatisch schnellen Verfall. Kein Wunder, dass damit auch die Identität zur Arbeit eine so andere wird, dass wir bald nicht nur mehr vor alten Fotos und Ansichten unserer eigentlichen Heimat stehen, sondern diese auch als fremd, sonderbar und ganz und gar nicht von dieser Welt empfinden. Man kann es nicht ändern. Schade ist es trotzdem.


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Am Potsdhaus, ein typisches Wohnhaus, gebaut um die Jahrhundertwende: hohe, überhohe Räume (das Heizen !), ein wenig Pomp in der Fassade, meist kaum Grün drumherum. Und niemals Blumen an den Fenstern, es sei denn, einige innen auf der Fensterbank. Aber letztenden Endes sah es in allen deutschen Städten zur damaligen Zeit so aus. Und diese massiven Häuser haben sich zu Millionen überall im Lande erhalten.

Beim Betrachten der Bilder fiel Gregor Wundes wieder eine knabenhafte Missetat ein:

Einmal im Monat kamen meine Großtanten und meine Großmutter zusammen, um auf dem Feldherrenhügel ( der Wohnung meiner Großeltern) die Marschrichtung für die Familie festzulegen. Da sie aber allesamt eingefleischte Monarchisten waren - Großtante Anna führte zu Kaiserszeiten bei einem Grafen in Boppard den Haushalt, worauf sie bis zu ihrem Tode in den sechziger Jahren stolz war - war ein Tag im Jahr wichtiger als Weihnachten, der 27. Jannuar (Kaisers Geburtstag). Dann wurde aufgetischt: Sahnekuchen, echter Bohnenkaffee (Bergisch Köppken) und frisch geschlagene Sahne!! Es gab eine Neuerung etwa Anfang der 50er Jahre in unserem Haus: Ein Sahneschläger bei dem die Quirle mittels einer Kurbel über ein Zahnrad angetrieben wurden, statt des bisherigen Schneebesens. Ich war damals so um die 11 -12 Jahre alt und mir viel die Aufgabe des Kaffeemahlens und Sahneschlagens zu. Die drei Grazien saßen alle im Sontagsstaat, dunklen Röcken, Samtwams und Rüschenkragen um den festlich gedeckten Tisch. Und ich schlug die Sahne! Mit der Zeit wollte ich aber wissen - ganz Techniker, der ich ja später auch wurde - warum "die Uhr tickt". Ich zog also den Sahneschläger aus der Sahne und drehte dabei weiter. Was dann passierte können Sie sich denken: Die Sahne spritzte durch die Gegend, die würdevollen Damen waren bekleckert und ich habe den Rest des Tages, unter Missachtung aller, auf einem Stuhl mitten im Zimmer sitzen müssen und keiner sprach mit mir.

Nun, es ist anzunehmen, dass man gleich einen Pöttmann herbeirief, der mit am Brunnen gefüllten Eimern (fließend Wasser war damals noch längst keine Selbstverständlichkeit in den Häusern; erst ab ca. 1900 ist ja die Sengbachtalsperre gebaut worden. Man "püöngelte" zwei Eimer bis nach Hause – wie man es heute noch in China und woanders sieht und kennt. Dabei galt es, so wenig Wasser wie möglich überschwappen zu lassen. Denn um so öfter musste man laufen. Also, unser Pöttmann wird dann wohl die Damen gründlich gesäubert haben, oder ?

Oder man überließ es den Dienstmädchen, die der Einfachheit halber im Rheinischen stets "Minna" heißen. Die weiße Schürze war Pflicht. Drückte sie doch aus, dass man keine schmutzigen Arbeiten zu verrichten hatte, sondern vornehmen Herrschaften diente, die fürs Grobe zusätzliches Personal beschäftigten.


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Die Rückseite der obigen Karte mit dem Haus.


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Liebe Schwester! Teile Euch eben mit, daß ich um 1/2 1 Uhr glücklich mein Zimmer erreicht habe. Minna hatte alles treu besorgt. Unsere haben nichts gemerkt. Mit Gruß und Dank Deine Schwester Anna! Gruß an M.L. Gruß an alle"

Na sowas ! Drei "Grazien" im Mao-Look. Und dann mit der Zigarette in der Hand ! Ja, ist es denn drin?! Und dieser Blick ! Hey Mädels, ganz schön kess für brave Jungfrauen!


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Wundes: die Schwertmacher-Dynastie

Drei, vier dutzend Familien beherrschten über Jahrhunderte die Schwertschmiede-Branche in Solingen. Unter anderem der Familienclan Wundes. Ihr Markenzeichen war für damalige Verhältnisse "weltberühmt" und bedeutende Männer der Geschichte haben ihre Schwerter benutzt. Unter anderem der Feldherr Tilly. Über den ist unter anderem zu lesen: "Tilly war ein begabter Feldherr, der sich in Zeiten moralischen Wertefalls seine menschliche und religiöse Integrität nicht allein durch Glauben und Kaisertreue bewahren konnte.
Er erzwang 1623/24 die Rekatholisierung von Halberstadt, Hildesheim, Minden und Osnabrück...
Er führte jeden Auftrag Maximilian von Bayerns aus und hatte den Ruf der Unbesiegbarkeit.
Er durchdachte seine Pläne sorgfältig, jedoch war seine Weise nicht immer die löblichste.
Durch Tilly gab es tausende und mehr menschliche Tragödien und sinnlose Vernichtung persönlicher Existenzen, Er plünderte äußerst grob.
Eine seiner außergewöhnlichsten Leistungen war die Vertreibung Friedrichs von der Pfalz. Seine Züge gegen die Anhänger dessen führten nach Mitteldeutschland und bis nahe an die niederländische Grenze. So wurde der böhmische Krieg zu einem deutschen Krieg.
Seine berühmteste Schlacht war wohl 1626 gegen Christian IV. von Dänemark bei Lutter am Barenberg.
Durch ihn bekam Krieg eine neue Bedeutung..."

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Die Inschriften des Schwertes spiegeln wieder, was über Jahrhunderte Usus war: Einerseits wurde mit Intensität das jeweilige Meisterzeichen dargestellt; im heutigen Sinne also ein echtes Branding, Marken(zeichen)pflege bereits vor dreihundert Jahren und älter. Und es wurden – ähnlich wie die Inschriften in den Tübalken und Schaufassaden der Fachwerkhäuser – dem Geschaffenen gewissermaßen Beschwörungsformeln auf den Weg gegeben – heute würden wir vielleicht sagen, sie erhielten Mantras.

Deutlich zu erkennen der Schriftug "Iohanes Wvndes" (u wurde wie v geschrieben) und der damalige Standard-Gruß "Soli Deo Gloria", nur Gott sei Ehre. Doch da dieses Schwert vermutlich konkret dazu benutzt wurde, um Feinde zu töten, ist ein anderer Spruch fast schon makaber: "Devs providebit", Gott (Deus) wird vorsorgen ! Vor allem in unmittelbarer Nähe zum wie abgeschlagenen aussehenden gekrönten Haupt eine Kombination, die damals eher Bewunderung auslöste, heute womöglich Verwunderung.

Solinger Schönheit heute

Der neue Bahnhof Solingen Mitte ist bei einem Architekturwettbewerb nominiert. Mal schauen, was daraus wird.

Also, für Fremde, nur zum vereinfachten Verständnis: Das ist der Bahnhof Mitte, aber es ist nicht der Hauptbahnhof. Der Hauptbahnhof liegt keineswegs in der Mitte, sondern fast schon weit draußen. Und das Bahnhof-Mitte-Dach hat eine dreieckige Grundform. Aber der Bahnhof Mitte steht nicht am Dreieck, wo die Mitte wäre, sondern eben außerhalb der Mitte, weil am Dreieck jetzt ein Rondell ist, und am dreieckigen Bahnhof Mitte etliches weg von der Mitte, die das Dreieck nämlich wäre, die Busse wie im Rondell rumfahren. Dreieckgemittetetrundherum sozusagen. Klar, dass da die Ampeln auf Rotgelbgrün stehen.
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Kerstin Ehmke-Putsch fotografierte diese Nachtimpressionen des neuen Solingens, dass mit Entwicklungsgeldern (Regionale 2006) umgestaltet wurde.

Dies ist die so genannte Busbane am Graf-Wilhelm-Platz, der an dieser Stelle eigentlich schon Neumarkt heißen müsste, weil das Dreieck, welches jetzt ein Rondell ist, im Rücken der Fotografin liegt, auf den Bahnhof Mitte zu, der außerhalb der dreiecksrunden Mitte liegt. Die Banana ist krumm, damit sich die Buss in einer geraden Reihe aufstellen können, damit dann hinwiederum die Leute auf den viel zu schmalen (schauen Sie mal hin) "Bahnsteigen" sich gegenseitig umstoßen, weil sie von einem Bus zum anderen rennen. Wirft dann noch einer eine Banananschale auf das Pflaster der Busbanane, na, dann laust aber alle der Affe. Aber das Turmhotel steht da weit drüber.
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Ausgleichssport

Falls Ihnen mal nach ein wenig Bewegung zumute ist: Fahren Sie doch einfach mal an der Kohlfurther Brücke Kahn. Vor dreiviertel Jahrhundert war das jedenfalls überhaupt kein Problem! Das konnte man sogar im "Sonndachsstaat" tun.

Gerd Brenger stellt das Foto zur Verfügung. Ein Foto von schlichter Schönheit der Alltäglichkeit.

Als das Bild entstand, fuhr noch nicht die Straßenbahn Linie 5 drüber. Heute ist die Brücke einsturzgefährdet, ihre inzwischen zugesagte Sanierung zieht sich derweil aus Gründen behördlicher Ausreden in die Länge (Hinhaltetaktik). Ein Bürgerverein kämpft um den Erhalt dieses funktionell nützlichen Kleinods:




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Eva-Maria Müller, die Tochter des berühmten Solinger Kunstmalers Willy Theissen, ist – aus ererbter Veranlagung gewissermaßen –  eine engagierte Künstlerin, die sich dem Genre reflexhafter Impressionen widmet. Ihre Werke sind eine wohlausgewogene und – im besten Sinne – sehr weiblich-intuitive Emotionalisierung flüchtiger Momente. Die sie mit einer Leichtigkeit, aber niemals ins Banale abgleitend in eher intensiven Farben festhält. Und durch die gewählte Maltechnik, vorwiegend Aquarell, eine ausgeglichen stimmende Leichtigkeit verleiht; selbst da, wo die Motive melancholische Anklänge haben. Die eher klein- und mittelformatigen Bilder sind stets eine gekonnte Balance zwischen Fülle der Details und Reduktion des Motivs auf geradezu schon logisch erscheinende Wesensstrukuren. Sie weiß sich in Nuancen auszudrücken, was der Lebendigkeit des Oeuvres zugute kommt.

Erntezeit im Bergischen Land, 2007
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Warten auf Godot, 2007

Das intelligenteste Stück Realsatire, dass ich seit langem aus und über Solingen gesehen habe: Die unendlich lange Leidensgeschichte des Ex-Hauptbahnhofs so dicht-impressiv und surreal zugleich festgehalten, dass man in Gedanken sofort die lange Halle entlang marschieren kann. Das Motiv hat für Eva-Maria Müller noch eine andere, sehr persönliche Bedeutung. Sie erzählt:

« Bezug zu dem Bahnhof hatte ich von Kindesbeinen an, mein Vater war im Hauptberuf Beamter bei der Bundesbahn. Ich habe als Kind diesen Bahnhofskomplex sehr geliebt. Da habe ich viele Erinnerungen, wenn wir Kinder meinem Vater mittags die Butterbrote brachten. Damals war ja noch in der besagten Halle in der Mitte ein Sperrhäuschen, worin mein Vater drin saß und die Fahrkarten der Fahrgäste kontrollierte. Die alten geknipsten Fahrkarten waren ein begehrtes Objekt für uns Kinder. Nun ja, jedenfalls weckt dieses so heruntergekommene Gebäude  immer wieder mal Erinnerungen. »

Ein Teil der Bilder kann man anschauen und kaufen (!) über dieses Kunstportal: