Totterblotschen (20)

Heimat. Eine heute "komische" Vokabel. Leider ist mit diesem Begriff schon zu oft politisch Schindluder getrieben worden, als dass man ihn eigentlich noch wert- und vorurteilsfrei benutzen könnte. Aber das Dilemma ist ja auch: gibt es einen Ersatz für diese Vokabel? Zuhause wäre eine solch näherungsweise Umschreibung, aber die Arbeit, der Verein, das Drumherum um das Zuhause – eben genau das ist ja das, was Heimat ausmacht. Auch, aber eben nicht nur die Landschaft, die Ortschaft. Alles, was einen geborgen, vertraut, akzeptiert, dazugehörig fühlen lässt. All das ist Heimat. Und wenn man sich so richtig wohlfühlt, dann will man es zeigen oder laut in die Welt hinausschmettern.

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Kinder, was hatten wir es schwer !

Demnächst ist Klassentreffen. Das erinnerte mich daran, wie groß der Unterschied von "damals" zu heute ist.

Als wir 1964 "reif fürs Leben" ins selbige entlassen wurden, da ...:

- durfte man noch in der Innenstadt auf den Straßen parken
- hatten Tronträger 2 Seiten und hießen Schallplatte
- las man auch als junger Mensch regelmäßig Zeitung
- forderte man Damen mit "Darf ich bitte, Fräulein" auf. Ganz verwegene setzten hinzu: "Oder müssen wir noch vorher tanzen?"
- half man älteren Leuten über die Straße, oder warf zumindest heimlich Schneebälle auf Lehrer
- ging man in die Kirche, meist widerwillig
- war eine Tasse Kaffee für 20 Pfennige bei Tchibo im Stehen der Gipfel des lotterhaften Lasterlebens
- bestellte man im Waffenschmied "Herrentoast" und kam mit einem Pils den ganzen Abend aus
- war man entweder Beatles- oder Stones-Fan und alle liefen zu den Lonestars
- war "Jugend tanzt" der Mega-Event in Solingen
- war Gerd Kaimer noch unser richtiger Lehrer und nicht Oberbürgermeister
- blieb man noch bei Rot an der Ampel stehen
- gab es nur WDR Mittel- und Ultrakurzwelle sowie Erstes und Zweites Fernsehprogramm, das Dritte war "am Kommen"
- konnte man in Lohhausen noch zu Fuß vom Abferitungsgebäude bis zum Flugzeug gehen. Es stand ja sowieso nur eins rum.
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So sah es bei uns in der Klasse aus, wenn der Schulrat kam. Jedenfalls habe ich es aus dem Gedächtnis nachgezeichnet.
Äh, nachzeichnen lassen.

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Die Herren sind von unseren Leistungen anscheinend nicht gerade überzeugt.

Aber auch die Schüler sind ratlos, was der Lehrer an der Tafel da wieder macht.

Skeptische Blicke, fragende Minen. Und einer hat sich schon den Walkman aufgesetzt, weil, er kann's nicht mehr mit anhören. Der lange Lulatsch guckt noch dämlicher als sonst.

"Ba-cke, ba-cke Kuu-chen,
den Leh-rer muss man su-chen,
wer will ha-ben Nin-ten-do,
ra-schelt mit dem Kopf im Stroh ..."

"Sechs! Setzen!"

Solingen. Parkstadt !

Jaaaaaa, damals !!!

Konnte man mittenmang in Solingen noch parken, wo man wollte. Nee, Kengker, wat woren dat herrliche Tieden. Du fuhrs mem Käfer stracks en de Stadt on konnsten do stonn loten.

Die Fotos entstanden um 1960. "Man" fuhr vor allem VW-Käfer. Rechts die Kölner Straße, vor dem damals noch nicht gebauten neuen Paketpost, mit Blick auf die markante Lutherkirche. Vor dem Park (Dicke-Busch-Anlage) zweigt die Katternbergr Sraße ab). UND !!! – der Obus aus Widdert kam noch von links den Birkenweiher hoch (er fuhr nicht, wie heute, direkt über den Entenpfuhl, sondern an der alten Badeanstalt vorbei). Endhaltestelle war dann vor der Sparkasse, von dort ging es wieder den Entenpfuhl runter. Auf dem man auch parken konnte, wie man wollte und wenn Platz war. War aber damals eigentlich immer.

Unten: Breidbacher Tor mit Blick auf die (Untere) Hauptstraße. Die ebenfalls befahrbar war und in der man parken konnte. Zum Beispiel direkt vor dem Ponystall. Hey !

Fotos: Frings, privat
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Dame in neuester Mode (von damals) – Flanieren am Breidbacher Tor und auf dem Alten Markt – et wengkten wall jet.


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Nicht zu vergessen: 1960 war der heute wieder mit bescheidenem Pomp eingeweihte Neue Neumarkt noch der Alte Neumarkt mit seinen Marktbaracken und der steinernen Markthalle – ein Hauch von Münchner Viktualienmarkt oder Wiener Naschmarkt mitten in Solingen. Aber auch hier galt: Solingen ist eine Parkstadt. Du kannst parken, wo Du willst. Kein Wunder: wer hatte denn schon ein Auto ?

Foto: Dokumentation


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. Unser Personal ... .

Vielleicht muss ja erst einmal lachen, wenn man das Foto sieht, das Jürgen Evertz im Familienalbum fand. Zu komisch sehen sie aus, die Gestalten – erinnern an die "Heldenbilder" aus dem Wilden Westen. Aber dann, bei näherem Hinsehen, könnte man eigentlich weinen: Die Ärmlichkeit, die aus Not geborene Erbärmlichkeit, mit der sich diese Arbeiter im Balkhauser Kotten vor etwas mehr als 110 Jahren herumschlagen mussten, ist überhaupt nicht mehr lustig. Zerrissene Kleidung, unbequeme Holzblotschen – und fröhliche Gesichter sehen wahrlich anders aus. Bedenkt man, dass Schleifer seinerzeit ein programmiert kurzes Leben hatten, Staublunge oder andere Atemwegserkrankungen waren an der Tagesordnung, dann kann man die Leistung dieser Generationen, die immerhin den Ruf Solingens begründeten und aufrecht erhielten, gar nicht intensiv genug würdigen. Auch wenn ein Schmunzeln bleibt, Anerkennung sei das Geringste, was wir Ihnen als Referenz erweisen können. Eigentlich wäre es an der Zeit, den "Kottenarbeiter" ein Denkmal zu setzen. Aber wer sollte oder wollte es tun? Bleibt also nur das Internet, um sich der Damaligen zu erinnern.
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Wenn Sie wissen wollen,
wer die stolzen Herren sind,
wie immer weiß es Solingens Kottologe Michael Tettinger
auf den Punkt genau:




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Singe, wem ...

Gräfrath ist schön – und Gräfrath ist zum Glück im Ortskern heute noch so, wie Gräfrath schon lange war. Ein authentischer Marktplatz, ein darum gruppiertes Ensemble an Fachwerk- und Schieferhäuern, Treppen, Brunnen, winzigen Gärtchen, lauschigen Winkeln. Das muss den Leuten immer schon gefallen haben, die schon "früher" sich der "guten, alten Zeit" erinnerten und ihr Wohlgefühl in emotions-überbordenden Gedichten und Liedern ausdrückten.

Hier ist sie, die Gräfrather "Nationalhymne",
zum laut nach-, mit- und vorsingen !!!

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Jürgen Evertz Dank für die Zurverfügungstellung dieses Kleinods.