Totterblotschen (23)

Wer oder was ist Solingen? Darüber gibt es so viele Antworten wie Menschen, die sich diese Antwort zutrauen. Eine gewisse Logik steckt schon hinter der Frage. Denn die Stadt ist multipel in vielerlei Hinsicht. Sie ist nirgendwo und niemals irgendwie "typisch", verändert sich trotz äußerer Bedächtigkeit ständig, hat zu verschiedenen Epochen eine ganz andere Ausstrahlung oder innere Spannung. Poetisch ausgedrückt: Solingen ist wie die Sonne. Sie scheint immer die gleiche zu sein, so wie sie scheint (wie doppelsinnig Worte sein können!). Aber konkret verändert sich ihre Oberfläche von Minute zu Minute. Und das seit Jahrmilliarden. Solingen wird nicht so alt werden, aber so flackerhaft wie die Sonnenoberfläche bleibt das "Solingerische" allemal.

.

Solinger in Österreich:

Es ist ja noch nicht einmal zu klären, was ein Solinger ist – ohne Verwirrung zu stiften. Unabhängig davon, dass heutzutage ein Ohligser noch bestreiten würde, ein Solinger zu sein, ist offensichtlich ein Solinger ein Musiker einer Trachtenkapelle im ober-österreichischem Innviertel.


.

Und einen Solinger Marsch gibt es auch, nur ist der eben kein Marsch aus, über, von und für Solingen, sondern der Solinger, die nicht aus Solingen sind, sondern eben aus Österreich. Hier kann man ihn auszugsweise hören:



Derzeit sind die Solinger leider per Internet nicht erreichbar:

http://www.mk-solinger.at/


.

Überhaupt: was ist in Wien (genauer: auf der Mariahilfer Straße) schon ein Solinger? Eben kein Trachtenviertelwaldbläser, sondern ebenbürtig mit dem New Yorker. Was ja auch stimmt. Solingen und New York haben jeweils die gleiche Telefonvorwahl ihres Landes: 212.

NewYorker ist eine Modemarke, Textilien für Trendsurfer auf der Altersgrenze zwischen Teeny und Frau. Ganz schön scharf, aber Solinger sind schärfer ...


.

Das eben ist der Unterschied: der Preis. Solinger Hersteller argumentieren natürlich auch, es sei die Qualität. Aber der Leiche ist es egal, mit welchem dieser Waffen ihr der Hals aufgeschlitzt wurde. Natürlich sind Messer nützlich für viele Dinge des Alltags. Dass sie trotzdem die Grenze der Gefährlichkeit allein durch ihre Funktion überschreiten, bleibt unbestritten. – Man beachte übrigens, dass die 109 Euro fürs Böker-Messer schon ein Sonderangebot sind. Der Ursprungspreis ist 158 Euro. Über 300 Mark, in Alt-Währung gedacht, für so ein kurzes Stückchen Messer – wow.


.

Aber noch toller mit den Preisen können es die Schweizer. Da darf man dann wohl ruhig den Slogan "Wer hat's erfunden? – Die Schweizer!" vom rachenrubbelnden Riccola auf das Marketing von Victorinox (Schwyz, also im Kernland der Eidgenossenschaft) anwenden. Einen MP3-Player, nur weil er in ein Messer eingebaut wird, für mehr als 100 Euro zu verkaufen (das Messer mit diesen wenigen Funktionen wäre für gut 30 Euro zu haben) anzubieten, ist schon ganz schön kess. Dagegen, für 1 GB mehr Speicher satte 80 Euro mehr zu verlangen – Chapeau, solch eine Chupze, diese "Handelsaufschläge" findet man allenfalls sonst noch beim Drogenhandel. Kein Wunder, wenn die Schweiz im Geld schwimmt, wenn Touristen auf diesen Trick reinfallen. Vol allem japanische Leisende und Toulisten aus China, dem Leich del Mitte.


.

Aber die Fernöstler sind es ja gewöhnt, extrem zu löhnen. Kochmesser aus Damaszener-Stahl sind nicht unter 150 Euro das Stück zu haben. Tja, reich sind sie eben, im Reich der Mitte, und den billigen Schund aus Plastik schicken sie dann zu den armen Verwandten, den Europäern, damit die sich in 1-Euro-Läden eindecken. Die Superreichen in Russland und Neu-China, die Sozialhilfe-Almosen-Empfänger in Europa. Willkommen in der strahlenden Zukunft !

Nein, man muss allmählich mal die Mär vom sündhaft teuren Solinger Messer beenden, die Illusion zerstören, Solinger Stahlwaren seien "unbezahlbar". Im Gegenteil. Gemessen an anderen Marken sind sie geradezu ein Schnäppchen-Preis. Der echte Steak-Kenner schneidet sein Kobe-Beef (falls Sie jetzt nicht wissen, was damit gemeint ist, vergessen Sie es, Sie gehören dann sowieso zu den Underdogs, den Kulturlosen, den Nicht-Gourmets, den Schweine- oder Hammelfleisch-Verschlingern; sorry: hart, aber wahr), also der wahre Kenner schneidet sein edles Fleisch auf dem Teller ohnehin nur mit solchen Laguiole-Messern. Bevor Sie nun wegen des Preises erschrecken: Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, ein einziges anständiges Kobe-Filetsteak würde Sie im Restaurant weniger kosten, oder?!


.

Selbst den Amerikanern ist gelungen, wovon Solinger immer geträumt haben: Banales oder auch etwas Raffiniertes als Marke zu etablieren, ohne dass das Ding an sich in der Herstellung sonderlich viel kosten muss. Einfachste Industrieware, einen Massenartikel, zu Kult-Preisen zu verkaufen, das gelingt eben trotz gemeinsamer Vorwahl den Leuten aus Manhattan und dem Rest von US-Amerika immer noch um Dimensionen besser als den Solingern. Eigentlich, eigentlich sind solche Multifunktions-Werkzeuge in Solingen vervollkommnet worden, aber die Schweiz (Victorinox) und die USA (Leatherman) vermarkten sie weltmeisterlich.


.

eBay als vox populi, Volkes Stimme, beweist, wie leichtsinnig-leichtfertig-arrogant-ignorant die Solinger Industrie mit ihrem Image umgeht. Mit einer maximalen Kraft an Selbstverleugnung bleibt sie hinter den Kräften des Marktes zurück. Für den "einfachen Mann auf der Straße" oder eben bei eBay sind Qualität und Messer und Scheren und Solingen ohnehin ein- und dasselbe. Oft findet man diese eigentlich falsche Bezeichnungen in eBay: Solingen wird mit einer Fabrikmarke gleichgesetzt. Ohne dass auch nur eine einzige Solinger Firma daraus lernt und Kapital schlägt ! Stolz kann eben auf direktem Wege in die Bedeutungslosigkeit führen, in einer globalen Marktwirtschaft, wo nicht Tatsachen, sondern Image, Trends und Vorurteile den Markt gestalten.
.

Ahnungslosigkeit über Solinger Produkte wird zum Allgemeingut. Ja weiß man denn nicht mehr, wie vornehm es in den 50er Jahren in deutschen Familien zuging? Da nahm man nicht die Wurst einfach mit den Händen vom Teller. Man servierte sie auf das Gäbelchen gespießt, und damit Mutter sich nicht die Hände schmutzig machen musste, diente die trickreiche Vorrichtung in der Tat dazu, Wurst oder Käse oder Schinken oder die Gewürzgurke aus den Zinken zu befreien. Und Silber, nee, Silber ist es nun wirklich nicht.

Im buchstäblichen Schatten des Wiener Stephandomes sind dann auch Solinger Wettbewerber wieder friedlich in werblicher Eintracht vereint. Erstaunlich, wie viele Menschen sich die Nase am Schaufenster platt drücken, nur um endlich mal edle Stahlwaren zu sehen. In Wien gibt es übrigens etliche, erstaunlich viele Geschäfte, die unmittelbar mit Solingen und seinen Nobelmarken werben – und hoffentlich auch entsprechend viel verkaufen. Das Unternehmen hat mehrere Geschäfte in Wien mit Solingen-Waren, unter anderem eben auch den Solinger-Shop auf der Mariahilfer Straße.


.

Aber eben, auf der Mariahilfer Straße in Wien wird der dorthin reisende Solinger beim Solinger vor Rätsel gestellt: wer in aller Welt, ist denn nun BSF? Etwa die schäbige Konkurrenz aus Württemberg, aber die heißt doch BASF oder WMF oder so ähnlich. Dass BSF eine Kern-Marke von Henckel, Solingen ist, wer weiß das schon? In Solingen jedenfalls kaum einer. Und das Wilkens auch zu Zwilling gehört, wem wäre dies bewusst? Auch kaum einem. Alles nachzulesen im Internet, einfach mal auf der Zwilling-Homepage unten links auf "Marke wechseln" klicken:




.

Sonderangebote, Schnäppchen sind ja schön und gut. Aber mich persönlich beschleicht inzwischen bei JEDEM Normalpreis, den ich zahle, das sehr bestimmte Gefühl, ich würde damit regelrecht abgezockt, beschissen, ausgenommen .... Sie etwa auch?!
200 statt 500 Euro – warum, in aller Welt, soll ich JEMALS WIEDER diesen "Normalpreis" zahlen? Warum?

Als bekennender Hobby-Koch mit, so höre ich es bei Tisch immer wieder, durchaus vorhandenen Talenten, bin ich ja auch bekennender Solinger Schneidwaren-Fan: ja, bei mir in der Küche gibt es nur Zwilling- und Wüsthof-Messer. Aber ein bißchen enthusiastisch und verdammt begeistert muss man schon sein, wenn man die Preise dafür zu zahlen bereit ist. Selbst im Werksverkauf ist es überhaupt nicht schwer, mal eben mit zwei-, dreihundert Euro aus dem Laden zu gehen.


.

Hier ist der Preisnachlass noch ein echtes freundschaftliches Entgegenkommen und kein "Jetzt verarschen wir aber mal die Kunden"-Sonderangebot. Es sei nur daran erinnert, wie solche Preise der echten, verbreiteten, Neuen Armut in Deutschland entgegenstehen. Aus einem Bericht des Solinger Tageblatts vom 11. Dez. 07: "Um die Höhe des Arbeitslosengeldes II festzulegen, hat der Gesetzgeber im Sozialgesetzbuch definiert, wer welchen Bedarf an Geld im Monat hat. Die Tagessätze [für alleinstehende Erwachsene] sind:
11,55 Euro
davon für:
Nahrung, Getränke 4,28 Euro
Möbel, Haushaltsgeräte 0,80 Euro
Verkehr 0,46 Euro
....
Die Tagessätze sollen so festgelegt sein, dass auch Geld zurückgelegt werden kann für ... größere Anschaffungen."
Na, dann sparen Sie mal fleißig auf den Wüsthof-Messerblock. Ich schätze, in rund 10 Jahren haben Sie es geschafft, wenn Sie sich zwischendurch nichts Außergewöhnliches gönnen.

Ist sie nicht längst pervers, zynisch, menschen-verachtend, die Gesellschaft, die wir alle so lässig hinnehmen, und über das Aufregen darüber hinaus nicht mehr in der Lage sind, sie zu ändern?
.


.

In der Januar-08-Ausgabe nimmt sich Stiftung Warentest der Kochmesser an. Schön für Solingen, dass die Produkte im wahrsten Sinne des Wortes gut abschneiden. Für Aufregung sorgte allerdings die Erkenntnis des unabhängigen Prüfinstituts, dass ein Messer von Ikea auch gut sei – für nur ein Drittel bzw. ein Viertel des Preises Solinger Messer. Flugs eilte man sich, Gegenargumente zu finden, warum so etwas ja gar nicht sein könnte. Außer "die halten aber eben nicht über Jahrhunderte" ist, so viel mir bekannt wurde, noch keinem etwas Gescheites dazu eingefallen.


.

Nur bescheidener Größenwahn

Wenn man das Thema "Hier Armut, dort Millionen" à la Stammtisch aufgreift, dann kann man ja nur repetieren: "De Kengker hant nix to freten, ewwer fürn Palast hann die huhen Heeren Geild jenogk em Mängken und je'en et ut wie der Ferkes Wellm". Ja, Solingen baut ein neues Rathaus – vielmehr lässt es bauen und mietet Räume an. Denn für ein eigenes Rathaus ist die Stadt längst viel zu arm. Auch sie lebt wie alle anderen "auf Pump" – und zwar so, dass die Rückzahlung nur noch durch einen Konkurs möglich wäre, rein rechnerisch.

Dieser Screenshot der eigens für den Bau eingerichteten Webcam zeigt, dass sich das Vorhaben jedoch als betonbetonter Plattenbau nach dem Muster der Ex-DDR herausstellt und daher auf eine gewisse Schlichtheit schließen lässt. Beton ist gut, der passt
a) zu den Köpfen, die hier wirken sollen und
b) werden in Solingen schon lange keine Nägel mehr eingeschlagen.

Übrigens, falls Sie meinen, es rauchten ja die Schlote in Solingen: das ist nur die Müllverbrennungsanlage, die sich im Mittelpunkt der Stadt befindet.
Ich verbitte mir gefälligst jetzt jeglichen Kommentar, ist das klar !? *fettbreitgrins*

Übrigens: nur einen Tag später, im Regen, sieht der Bau so trostlos aus, dass man Lust auf eine Depression bekommt, auch wenn die Müllverbrennungsanlage immer noch dampft:


.

Die Stadt Solingen veröffentlicht in ihrem Internetportal diese computeranimierte Skizze des zukünftigen Palastes. Architektur als steingewordene Psychoanalytik: man verschanzt sich hinter dicken Mauern und gibt gezielt Einblicke, um Gläsernes Rathaus zu symbolisieren. Ein bißchen kubisch, ein wenig hanseatisch, etwas holländisch, und insgesamt irgendwie auch belanglos – eben halt das Gegenteil von dem, wovon man lebt. Den Steuern der Wirtschaft. Und die hat ständig die Aufgabe, aus Nichts etwas Besonderes zu machen, sonst könnte es sie nicht mehr geben ... – nur die Stadt macht aus allem nichts besonderes.

Aber bitte keine Aufregung um den Bau des Jahres 2007.
80 Jahre zuvor, 1927, kurz vor der Städtevereinigung, lag nämlich dieser Plan auf dem Tisch, erdacht vom Baurat der Stadt Solingen, Herrn Schmidhäussler. Der selbstbewusste Turm gleicht denen der hoheitsbeanspruchenden Rathäusern der Nachbarstädte im Bergischen Dreieck, Remscheid und Wuppertal (Elberfeld). Hätte man auf diese Pläne zurückgegriffen, boh, wäre da das los gewesen in der Klingenstadt .... !!!!


.

Beeeeeeee-ne-dettooooo

Während man der Stadt Solingen nur Bescheidenheit attestieren kann, genießt der Papst dank Solinger Hilfe, diese auch. Unter dem Deckmantel der vorgeblichen Schlichtheit im Design ließ er sich, Bettelmönch, der er nun einmal ist, von Zwilling ein Eßbesteck schenken, das mit den päpstlichen Insignien (Staatswappen des Vatikan) versehen ist. Der Mann gönnt sich ja sonst nichts, den anderen auch nicht. Noch nicht mal eine Pille.