Totterblotschen (27)

As times goes by. Wie sich doch alles verändert. Das Stadtbild, unsere Auffassungen, "das Leben" ringsum – und damit auch wir und unsere Erinnerungen. Einiges von den "alten" Dingen versuche ich hier auf diesen Seiten in die Gegenwart zu retten. Und das gelingt zunehmend, weil mir viele Menschen immer wieder kleine Schmankerl zusenden – Bilder/Fotos, Dokumente, aber auch Hinweise, Bemerkungen, Korrekturen und Ergänzungen. So ergibt sich ein Bild der Stadt Solingen, das dem Anspruch von dieses Blogs voll gerecht wird: hemmungslos subjektiv, aber durch seine Fülle der Details doch wiederum charakterisierend.

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Heute nicht wiederzuerkennen

Das Gebäude der Deutschen Bank gegenüber der St. Clemens Kirche. Auf dieser Postkarte aus den 50er Jahren ist an der Spitzseite eine Fassade zu erkennen, die so nur vor dem Krieg existierte (Das Denkmal wurde 1955 abgerissen)


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Aus den 50er Jahren stamm dieses Foto, auf dem die Fassage als glatter Wiederaufbau zerstörter Gebäudeteile zu erkennen ist. Zwischen Bank und Denkmal Bäume ...


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... die einst so hier nicht standen, weil statt des Bankgebäude-Vorbaus (zum Denkmal zu) ein pavillon-artiger Anbau existierte, der ganz offensichtlich später mächtig aufgestock wurde. Hier befand sich das Feinkostegeschäft Otto Mees – diese Handelskette existiert bekanntlich noch recht vital. Im Bankgebäude selbst waren auch Wohnungen. Ralf Maus stellte 4 Bilder zur Verfügung. Sein Vater ist in dieser Bank geboren – hoffen wir, dass es ihm mit lebenslangem Geldsegen belohnt wurde.


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Das Maus'sche Imperium an der Schwertstraße – immer wieder köstlich diese maßlosen, unglaublichen Übertreibungen der jeweiligen Firmengebäude. Da hätten ja viele hundert Leute beschäftigt sein müssen. Wenn man mal alle Zeichnungen von Solinger Firmen, die es auf Briefbögen udn Visitenkarten (wie hier) 1:1 ernst nehmen würde, hätte damals Solingen als einzelne Stadt die Ausdehnung wie der gesamte Ruhrpott gehabt. Bei dieser Gelegenheit: Schauen Sie doch mal in die Zweigniderlassung dieses Blogs auf www.solingen-interntet.de und dort unter "Werbeparade" ...




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So sah die "Fabrikanten-Villa", wie man so etwas in Solingen nennt, in realita aus. Ganz ansehlich repräsentativ ... hoffentlich im Familienbesitz und nicht im Besitz der Deutschen Bank. Dieses Haus existiert nicht mehr (die Nr. 24 ist heute ein normales Zweckwohngebäude).


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Von wegen: keine Dope im Radsport ... !!!

Wahrscheinlich wird es irgendeiner so formuliert haben: "Die Welt schaut nach Solingen ..." und Köln und Wuppertal, als es 1954 in diesen drei Städten die Radweltmeisterschaften in verschiedenen Disziplinen gab. Straße in Solingen, Bahn in Köln, Steher in Wuppertal. In Solingen wurde daraus die legendäre "Regenschlacht". Was für heutige Tortour de France-Gewohnheiten der Col de la Soundso ist, das war seinerzeit der Col de Pfaffenberg – der Anstieg von Balkhausen nach Hästen mit der Haarnadelkurve an der Zufahrt zur Burg Hohenscheid. Hier war hopp-hopp-hopp-Athmosphäre angesagt.


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Druck: Mittelrheinische Druckerei und Verlagsanstalt, Deutz (später umbekannt in: Druckhaus Deutz), nicht mehr existent, 1955

Eine simple Annonce in diesem Heft macht mir persönlich klar, wie unsinnig bis verlogen, wie unlösbar und unmöglich die aktuelle Doping-Hysterie ist, war und bleibt. Erstens einmal: wird denn irgendjemand erwarten, dass Menschen, die man auch als austrainierte fitte Burschen 300 Kilometer durch die Landschaft jagt, an einem Steilanstieg über Kilometer frisch wie der junge Morgen raufstrampeln? Oder mit Geschwindigkeiten, die für Punkte in Flensburg gut sind, durch enge Straßen rasen, ohne auch je eine Sekunde die Konzentration zu verlieren. Kann man das, sich Vernunft attestieren wollend, dies annehmen? Wer's tut, glaubt auch, dass ein Zitronenfalter Zitronen faltet. Aber was ist denn bitte eine Erfrischung? Schon Doping? Weil sie – ich coke mir einen – Koffein enthält? Und wieviel Flaschen, sprich wieviel Milligramm Kokain, o sorry, Koffeein sind denn erlaubt? 20 Flaschen Cola – schon gedopt??? Wenn nicht, wo bitte soll wirklich eine objektive Grenze sein? Koffeein in Kaffee- und Cola-Form erlaubt, als Tablette nicht? Ich meine, die Diskussion muss im Chaos enden, oder ?!
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Und was sagen Sie hierzu? Wo Licht, da Schatten. Wo das Gute, da das Böse. Ergo: Wo Leistungssteigerungs-Doping, da "Zieht-runter"-Doping. Erstens: ohne Helm. Zweitens: im "windschnittigen" selbstgestrickten Pullover. Drittens auf einem Rad, das man heute kaum noch in eBay losschlagen könnte. Viertens mit weißen krümpeligen Socken, igitt. Fünftens mit einem Betreuer, dem die Hosen zu lang und es augenscheinlich langweilig ist – warum will er sonst mit der Zeitung unterm Arm zum Klo? Klar, welche Lunge kommt schon mit reinem Sauerstoff klar, also, rein mit dem Nikotin. Und jetzt die Frage: Wenn Koffein Doping ist (oder nicht), ist es denn Nikoton auch (nicht) ??? !!!

– Aber gemach, es kommt noch besser:
In Solingen wie andernorts sind die so genannten Steher-Rennen beliebt. Am Heck eines Motorrads ist eine drehbare Stange befestigt. An dieser Rolle muss der Radfahrer mit dem Vorderrad "kleben" und sich vom Kradfahrer in der Geschwindigkeit führen lassen. Der Radfahrer ruft diesem Kommandos zu, weswegen diese in den Helmen "nach hinten gebogene Ohren" (Ohrklappen) haben (und er sitzt so weit wie möglich hinten).
Sind Auspuffdämpfe Doping? Kann Zweitaktgemisch-Qualm süchtig machen? Oder wie gehen Radfahrer mit diesen chemisch giftigen Stoffen um, die sie auf diese Art und Weise auf direktem Wege in die Lunge bekommen?


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Dieses unschlagbar köstlichen Bilder fand Jürgen Evertz in seiner Schatztruhe alter Erinnerungen und stellte es mir zur Verfügung (plus 3 weitere, unten). Herzlichen Dank dafür.
Die Steher-Bilder stammen aus dem Jahr 1907.

In Solingen gibt es eine Radrennbahn mit regelmäßig stattfindenen Steherrennen. Sie befindet sich an der Burger Landstraße, nahe der Ortschaft Dorperhof und ist für viele treue Fans ein Mekka vergnügter Unterhaltung. Ich selbst erinnere mich noch sehr genau, wie ich als Kind von dem höllen-lärmenden Getöse der knatternden Steher-Motorräder fasziniert war. Das kommt ja noch zum Gestank und Auspuffqualm hinzu: die Maschinen waren gehörschädigend laut.

Dass die Steher heute wirklich auf dem Motorrad stehen (und nicht wie früher sitzen), die Ausrüstung upt to date ist und Radfahren in einem Verein Freude machen kann, das zeigt der in Solingen seit 1903 existierende Verein RC (Radclub) Schwalbe. Auf seiner Homepage kann man finden, wann wieder ein Spektakel ansteht.



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Diese Konstruktrion ist ja mehr als abenteuerlich – ein klassischer Film-Slapstick könnte nicht absurder sein. Der Maschinist an seiner selbstgebastelten Seifenkiste, vorne der todesmutige Wegbereiter und dahinter der ungeschützte Radfahrer, der das Töfftöff zu schieben scheint. Vor allem die Kappen der Biker sind einsame Spitze. Also ehrlich: nüchtern und ungedopt würde ich mich NICHT auf ein solches Gefährt setzen – egal, ob vorne, mitte, hinten. Ich stelle mir vor, man würde die Tuhrdöfrohnks auf Steher umstellen und die ungedopten Helden ließen sich dann per Heckreibungsrolle den Col de Wahnsinn raufziehen ... Welch ein Gaudi !


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Seit es Räder gibt, gibt es Rennen. Doch so selbstverständlich und "normal" uns diese Räder auch erscheinen, es war gar nicht so einfach, sie populär zu machen. Bei der Konstruktion kam man überdies auf die aberwitzigsten Ideen:




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Bild aus dem Fundus von Jürgen Evertz

60 Jahre nach der ersten Weltmeisterschaft war u. a. Solingen der Austragungsort des Kräftemessens. Dass die Technik sich inzwischen leicht weiterentwickelt hatte, zeigt diese Gegenüberstellung. Links der Erfinder der Draisine, der Förster Drais, auf einem Originalfoto (die Bärte wurden später, wie die oberen Fotos zeigen, gezwirbelt), rechts der Organisationsleiter der Rad-WM 54 auf dem damals neuesten Moped – eben jenem Ding zwischen menschen-muskel-bewegtem Fahr-Rad und dem Motor-Rad, schwyzerdütsch akustisch korrekt "Töff" genannt.

Und abermals: ist denn Alkohol Dope oder Anti-Dope ... ?? Denn die Werbung rund um das Solinger Spektakel dieses Sports, der ja angeblich der Gesundheit dienen soll, bestand überwiegend aus einem impertinenten Anpreisen von alkoholischen Getränken. Weginstens einen Vorteil hat es, solch einen Pokal voll Gesöff mit aufs Rad zu nehmen: der James-Bond-Forderung nach "gerüttelt, nicht gerührt" kann man ungerührt nachkommen *doofgrins*.

Ließe sich ketzerisch fragen: Mit wieviel Promille Vorsprung hat dieser wadenmuskuläre Supertyp gesiegt ?
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Da staunen aber die Spar- und Bauvereins-Häuser nicht schlecht: Internationaler Flair auf der holz- und selbst-gezimmerten Tribüne. Wetten, bis dato wusste kaum ein Solinger, wer oder was Martini ist und wie er schmeckt. Nur logisch, daß einige Jahre später ein gewisser Karl-Heinz Martini für die SPD-Fraktion in den Stadtradt gewählt wurde. Bei so viel Wahlkampf .... !

Immerhin gings beim Ziel sachlicher zu. Übrigens, kennen Sie den? Ein ziemlich dicker Professor wird von den Studies "das Fass" genannt, was ihm zu Ohren kommt. Also beginnt er die nächste Vorlesung so: "Ich hörte, man nennt mich ,das Fass'. Das ist nicht richtig. Denn ein Fass ist von Reifen umgeben ..." (ok, ist halt ein intellektueller Witz, schon gut, Sie müssen nicht lachen).

Noch etwas phonetisch-intellektuelles: In Solingen kann man sich nicht darauf einigen, ob diese Marke CONtinental oder ConTINENtal heisst, es gibt so viele Täler hier ...
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Gewusel in Trechncoats: Wetterfeste Solinger und begossene Pudel, sprich Radfahrer.


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Ortskundige erkennen zweifelsfrei auf den ersten Blick, wo diese Aufnahme entstand, denn die Szenerie ist bis heute, über ein halbes Jahrhundert später, vollkommen unverändert. Die Wiese in der Spitzkehre des Anstiegs Balkhausen—Hästen / Pfaffenberg. Dahinter das Tor der Zieleinfahrt (so etwas wie heute der "Teufelslappen" und ganz oben in der Waldschneise ist eher ahnungsvoll die Start-Ziel-Szenerie zu erkennen. Ende des 15-KM-Rundkurses, der als "Klingenring" damals Respekt abnötigte. Schade, dass heute solche Rennen nicht mehr ausgefahren werden. Beim heutigen Oberbürermeister von Solingen könnte man sie "Tour de Franz" nennen.

Die Strecke ging übrigens über Eichholz den Pfaffenberger Weg hinunter nach Breidbach, Wupperhof und dann die Waldstraße nach Orth/Witzhelden und Hrscheid hoch, wo man dann wieder die Talfahrt Richtung Glüder aufnahm. Orth ist übrigens nicht nur irgendein Ort, nein, er wird als "Flugplatz Orth" bezeichnet. Hui ...
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Für diesen 15-km-Kurs brauchten die Amateure etwas mehr als 25 Minuten, das enspricht ca. 37 km/h. 10 Mal mussten sie die Strecke bewältigen.
Und im übrigen beachte man die elegant gekleideten und bescheiden konsumierenden Zuschauer, die sich offensichtlich mehrheitlich NICHT für das Rennen interessieren:


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Aus Ehrfurcht vor dem grandiosen Weltereignis hat man die Straßen seit dieser Zeit nicht mehr erneuert – ehrlich, auf diesem Straßenabschnitt zwischen Hästen und Balkhausen wird man im Auto durchgeschüttelt, als flöge man mit einem Fliegenden Teppich durch ein Monsun-Unwetter.

Aber am Tollsten ist das Cabrio ... das hätte ich gerne !

Die Rennen fanden Ende August statt (Profi-Straßenrennen) am 22., eigentlich einem "trockenen Monat" – falls es nicht regnet, was in Solingen üblich ist.

Übrigens, von 72 gestarteten Fahrern kamen nur 21 ins Ziel. Die Zahl der Stürze war erheblich, vor allem auch auf den abschüssigen Strecken. Die Deutschen fuhren auch einen Triumph ein: Arm in Arm querten die beiden noch im Feld verbliebenen Deutschen die Ziellinie. Als vorletzter und letzter. Aber immerhin, 51 hatten es nicht geschafft !

Was blieb, war der Mythos des Klingenrings. Leider ist er nie, nie wieder auferstanden ...

Der große Star, Sieger des Profi-Straßenrennens, war 1954 der Franzose Louison Bobet, der die Regenschlacht gewann. Die Schilderungen der Reporter und des Buches lassen glaubhaft erscheinen, dass sich diese Jungs damals dopingfrei gequält, geschunden, alles abverlangt haben. Obwohl er "mörderisches" leistete: Kurz vor dem Ziel, nachdem er Runde für Runde geführt hatte, platzte der Vorderreifen. Bobet verlor entscheidende Sekunden, gut 300 Meter auf den Zweiten, der nun schon auf dem Schlussanstieg von Balkhausen hinauf Richtung Hohenscheid war. Doch Bobet strampelte "den Kampf seines Lebens" und konnte den verzweifelt kämpfenden Zweiten, den Schweitzer Fritz Schär, am Berg förmlich "stehen lassen". – O-Ton: "Er flog an ihm vorbei. Die Zuschauer konnten es nicht fassen."

– Ach ja, erinnert Sie das nicht unglaublich frappant an die berühmte Szene mit Jan Ulrich und Lance Armstrong.
Lance, Louis, Louison – wiederholt sich Geschichte ??? ??? ?
Bleibt Doping ??? ?? ?

Ich wünsche allen und hoffe: NEIN, nein, nein.

Helme galten damals als hinderlich und Leistungsschwäche als Heldenmut (die gute alte Regel von der olympischen Mitmach-Idee). Das große Feld dezimierte sich also im Laufe der Runden, Mannschaften und Wasserträger gab es noch nicht, jeder kämpfte für sich alleine. Aber Windschattenfahren, das sieht man deutlich, hatten die Jungs schon voll drauf. Diese Straßen, dieser Regen, die Steilheit der Berge – ja, es muss in der Tat "die Hölle von Solingen" gewesen sein. Über das Durchhaltevermögen der Zuschauer sollten im übrigen auch Lobeshymnen gesungen werden !