Totterblotschen (38)

Das Dorf Solingen. Vor kurzem sagte mir ein in Solingen an sehr entscheidender Stelle aktiver Politiker, es sei für ihn persönlich das pure Vergnügen, in dieser Stadt zu leben. Weil: auf dem Markt träfe man jede Menge Bekannte, in jeder Kneipe säße immer jemand, mit dem man per Du ist. Jeder Spaziergang brächte Begegnungen mit Menschen, die man mag oder lange nicht mehr gesehen hätte – mithin, so seine wörtliche Aussage, sei es hier "wie in einem Dorf, obwohl es eine Stadt ist". Und deshalb, verehrte Solingerinnen und Solinger, Besucher und Freunde dieser Stadt, solange das Schicksal dieser Stadt maßgeblich mitentscheidende Politiker Solingen als DORF sehen, haben und behalten wollen, können Sie auch gar nichts anderes erwarten, als dass Solingen ein Dorf war, ist und bleibt. Diejenigen, die sich Solingen als eine (Groß-) Stadt mit besonderem Charme, charakteristischem Flair und sinne-anregenden, vielleicht sogar experiementell-progressiven Szene wünschen, die sollen sich gleich in den (neu angelegten, siehe unten) Dorfteich stürzen. Bliebe noch der Antrag, Solingen in Solingdorf umzubenennen. Wir könnten mit der Landeshauptstadt tauschen. die hieß dann Düsselen statt Düsseldorf.

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Dorfplätze gibt es genug. Viereckige, dreieckige, runde und unförmige. Das hier ist das Dreieck, ein früheres Dreieck, das nun ein Kreis ist. Was schon an der Straßensignalisation zu erkennen ist: Achtung: Dreieck ist jetzt dreimal rund, so lautet die Botschaft der Verkehrszeichen. Und seit dem geht es rund am Dreieck, obwohl der Rundverkehr gar nicht nötig wäre, weil kein Verkehr mehr stattfindet; oder nur noch sehr wenig, und dann hautpsächlich durch Busse, deren Fahrer sich nun dank Rundkreisel die Arme müde kreiseln, um die wuchtig-lange Busse, die bequem geradeaus oder um die Dreieckskurve hätten fahren können, wenn das Dreieck ein Dreieck geblieben wäre, um den Rundkreisel zu kreiseln. Dafür steht aber auf dem runden Dreieck ein neues Denkmal aus Dreiecken, um zu sagen: Achtung, hier das Runde, das ist das Dreieck. Alles klar?


Am Dreieck, siehe Dreieck-Zeichen, also am Kreis, der das gewesene Dreieck ist, steht nun der Dorfhütejunge. Der einen Dukatenesel hütet, der mal im Hof der Stadtsparkasse stand, dort Geld schiss, aber – vielleicht stinkt Geld ja doch! – im Zuge der Umstellung auf bargeldlosen Verkehr vor die Tür gesetzt wurde. Vor die Türen des Sparkassengebäudes. Dort kann der Goldeseljunge nun auf das Dreieck schauen, wie es da rund geht. Ist doch eine nette Dreiecksgeschichte, oder?


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Jedes Dorf hat auch Dorfläden. Und damit Läden auch Kunden haben, kaben Läden Schaufenster, in denen die Kunden sehen können, was sie kaufen sollen. Nicht so in Solingen. Da sind viele Fenster zugehangen. Ja, einerseits bei den Läden, die keine Läden mehr sind, weil sie keine Kunden mehr haben oder nichts im Laden, was Kunden kaufen wollten, sondern es sind auch die Fenster zugehangen in den Läden, wo Kunden kaufen sollen. Und das direkt an einem der beliebtesten Dorfplätze, dem Graf-Wilhelm-Platz, an dem Karstadt steht, das jetzt auch die Läden dicht macht. Mit anderen Worten: Die Attraktivität der Einkaufsstadt Solingen wird einfach dadurch erhöht, dass Läden nichts zeigen oder verkaufen. Das weckt angeblich Begierde. Und Gier reißt die Menschen zu unkontrollierten Ausgaben hin – angeblich. Deshalb machen in Solingen die Läden dicht, auch wenn sie noch nicht dichtgemacht haben. Aha.
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Dieses bedrohlich Loch zur Unterwelt (Keine Sorge, Sie landen hier nicht in der Kanalisation) war einst eine gefeierte Sensation: die sogenannte Turm-Passage. Zwar hatte der Tunnel unter dem Graf-Wilhelm-Platz nichts damit zu tun, dass man unterirdisch auf einen Turm gelangte, aber er hieß nunmal so. Und man ging schon immer in das Loch wie in einen BUNKER. Rechts direkt hinter dem Dunklen war ein übelst riechendes Pissoir (und Schlimmeres), ansonsten war das Loch, das immer schon so aussah, drastisches Alptraum-Training. Leute mit Klaustrophobie wurden dort reingeschickt. Sie brauchten lebenslang keinen Therapeuten mehr, wenn sie die Turmpassage lebend überstanden hatten. Der Busbahnhof war übrigens nicht im Loch, sondern oben auf und neben dem Deckel von diesem Bunker, aber man kam zu einer Treppe und einer Rampe, die dorthin führten. So schön kann dieses Dorf Solingen sein.
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Dörfler sind kritische Leute, vor allem preiskritische. Weshalb manche Händler gleich ihr ganzes Sortiment als Sondernangebot auszeichnen, damit man erst gar nicht lange nach einem Schnäppchen zu suchen braucht. Und von diesen Möglichkeiten des prüfenden Blicks und der kritischen Prüfung machen die Solinger vor allem dann Gebrauch, wenn sie selbst in Sonderangebotsrot gekleidet sind und mit einem dicken Rotstift in der Einkaufstasche durch die Gegend laufen. Merke: tief bückt sich, was ein Sonderangebot werden will.


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Das hier ist ein weiterer Dorfplatz. Eigentlich der zentrale Handelsplatz von Solingen, der Alte Markt. Auf dem kein Markt mehr stattfindet. Sondern die Langeweile zelebriert wird, jedenfalls fast immer. Einige übrigens sehr gute und gerne besuchte Cafés und Gaststätten am Rande, sehr nett, mit den Charme einer hilflosen Verzweiflung gegen die Öde ankämpfend. Irgendwie fragt sich jeder Solingen: was sollen wir bloß mit diesem Platz anfangen? Das fragt sich seit Jahren auch Peter Witte, der Heimatdichter, und sinniert in Bronze gegossen vor sich hin; einige fußmüde Zeitgenossen leisten ihm Gesellschaft. Der wenige Rest der Dorfbevölkerung schaut fragend umhehr, wo denn nun das pralle Leben von Solingen abgeblieben ist ...


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Das ist der neue Markt am Neumarkt. Der ist ebenfalls so hübsch, so romantisch, so phantasievoll, so einladend, so heimelig, so lebensfroh eingerichtet, dass einem eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken läuft. Vor allem aber ist es ein didaktischer Platz. Da Solinger Dorfkinder ja nicht mehr an den Dorffluss Wupper geführt werden und dort ohnehin kaum noch Wupperwehre sind, hat man ein solches nachgebaut auf dem Neumarkt. Das ist jetzt ein kleines Wupperwehr. Oder was soll es sonst sein? Ein Rokoko-Garten mit Wasserspielen? Oder ein Planschbecken? Nein, es ist ein Dorfteich !!!! Ahaaaahhh! Und genau so klein und mickrig ausgefallen wie jener Mut, den dorfgestaltende Politiker aufbringen, wenn es darum geht, Entscheidungen für die Lebendisierung dieser Stadt zu treffen. Übrigens: Hätten Sie Lust, hier zu verweilen? Neee, na dann sind wir ja schon zweit.

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In einem der wirklich freundlichen und sehr kompetenten Geschäfte an einem der netten Dorfplätze fand ich ein Schild, das mir Mut machte. Ja, Filmstar, ja, so möchte ich auch mal aussehen. Aber, das war meine Bedingung, weiterhin den Durchblick behalten, damit ich mich in diesem Dorf Solingen zurecht finde.

Deshalb habe ich mir sowohl eine Durchblickbrille anmessen wie diese auch per Hand häkeln lassen. Und ich verspreche Ihnen, ich werde weiterhin schön wie ein Filmstar sein, aber mein Maul nicht halten, wenn es in diesem Dorf wieder was zu bekrähen gibt.
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