Totterblotschen (5)

Muss man immer alles ernst nehmen? Rheinländern, zu dieser Weltanschauung zählen sich die Solinger, sagt man einen humorigen Pragmatismus nach. "Et kütt, wie et kütt" ist eine gern zitierte Kölner Volksweisheit. "Do kanngste nix maaken", sagt der Solinger und geht zum nächsten Punkt über. Oder trinkt einen Schnaps. Was manchmal identisch ist. Weil am Stammtisch immer noch die schönsten Weisheiten verkündet, die Welt neu erfunden und alle Probleme beseitigt werden, hat das Internet die Blogs erfunden. In denen dann Neunmalkluge ihre Ansichten verkünden. Davon soll auch diese Seite keine Ausnahme machen.

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1911

Für alle, die vor kurzem – im Herbst 1911 – verpasst haben, die Zeitung zu lesen, wollen wir die wichtigsten Annoncen oder ausgewählte Lokalberichte hier noch einmal wiederholen. Was zu einer sehr bemerkenswerten Erkenntnis führt: So gut wie alles, worüber wir uns heute aufregen und was wir als so schrecklich modern ansehen, ist vor hundert Jahren auch schon nicht anders oder vorhanden gewesen. Vor allem der Drang zu billig, billig ....


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Die Serie mit Uralt-Reproduktionen der damals größten Solinger Lokalzeitung (schon lange nicht mehr existent):



Es gibt schöne und es gibt sehr schöne Bilder über Solingen. Die von Norbert Michailowitsch gehören zu den sehr schönen – von ihnen geht, nicht selten, so etwas wie Poesie aus. Sie zeigen bekannte Motive in eher unbekannten, man sollte sagen unbemerkten Momenten und Stimmungen. Wenn auch ganz zweifellos digitale Technik mitgewirkt hat – was heute mehr als nur normal, nämlich sehr sinnvoll ist – so bleiben die Bilder doch immer noch, was den Reiz des Fotografierens ausmacht: Lichtgemälde. Es sind nicht sehr viele, die im Netz zu sehen sind, aber ein jedes lohnt sich zu betrachten:




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Wenn man heute irgendwo in Deutschland im (kommunal-) politischen Leben behaupten würde, die Bürgermeisterin wäre eine Hexe, so gäbe es einen Skandal. Nicht so in Solingen. Da ist sie nicht nur eine Hexe, sondern eine bekennende und mitgründende dazu. Ulla Feldhaus, um die es geht, hat zusammen mit anderen Frauen einen Verein namens "Hexenkessel e.V." gegründet. Um Frauen in Not beizustehen und (berufliche oder gesellschaftlich) engagierte Frauen zu ermutigen und zu unterstützen. Also eine durch und durch positive, mehr als löbliche Sache. Dass die bekennenden Hexen einmal im Jahr, in der Walpurgisnacht (auf den 1. Mai) in listig-lustiger Hexenkluft ihren Schabernack treiben, kann man verstehen. Denn mit Geheimbünden (denen nicht selten auch Magie nachgesagt wurden) haben es ihnen die Männer ja reichlich vorgemacht. Noch heute sind viele soziale Bünde und Clubs de facto geschlossene Gesellschaften. Die einen brauen womöglich ihr Gift- und Galle-Süppchen, die andere jagen auf dem Besen reitend die Übeltäter in die Flucht. Wenn das mal keinen Hexenstich gibt ...

Bürgerschaftliches Engagement ist übrigens – entgegen der Mentalität der Solinger, über alles und jedes immer und ewig zu meckern – extrem stark verbreitet. Der Hexenkessel ist nur ein Beispiel von vielen hundert. Speziell für Frauen gibt es eine Informationsbroschüre der Stadtverwaltung (die es sich nicht nehmen lässt, die Solinger Liëwerfrau als muntere Springininsfeld darzustellen. Kein Tippfehler! Er: Spring..., Sie: Springin)

Verein Hexenkessel e.V.:



Solingen lebt vom Export, zu deutsch der Ausfuhr. Solingen war und ist eine weltoffene Stadt, eben schon beruflich. Solingen ist auch eine "Schlafstadt" und Design-Stadt (Design heisst Gestaltung), oder erfolgreiche Event-Agenturen (Veranstalter) und Ad Agencies (Werbefachunternehmen) sind hier zu Hause. Ganz abgesehen davon, dass die bekannteste Marke, die Zwillinge, als Twins überall auf der Welt bekannt sind. Nur die Solinger an sich, meint die SM (SM steht ansonsten für Sado-Maso, quälend-leidend, hier aber für Solinger Morgenpost – was heisst eigentlich Post auf deutsch???), nur der Solinger an sich sei zu doof, um englisch zu verstehen. Könnte es nicht sein, dass es heißen müsste, englisch verstehen nur die nicht (mehr), die nicht (mehr) im internationalen aktiven Berufsleben stehen? Könnte es nicht längst sein, dass in der Tat eine Mehrschichten-Gesellschaft Realität ist, die sich mental gespalten hat? Außerdem: Der Deutsche als solcher verlangt, dass in Mallorca Bier Bier heisst, damit er es bestellen kann. Warum kann der Weltbürger nicht verlangen, dass in Solingen eine Telefon (Fon!) Phone (gesprochen fon) heisst?
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Nun muss man aber wissen, warum die SM solch ein Thema aufgreift: weil es eine Woche zuvor eine heiße Meldung u. a. im Spiegel war, Käufer könnten die englischen Begriffe nicht übersetzen. Frage: hat das jemand von Ihnen je gefordert? Sind Leute, die im Berufsleben fast nur noch englisch sprechen müssen, weil es gar nicht mehr anders geht oder man sonst nichts mehr mitbekommt, nicht in der Lage, nachmittags und am Wochenende auf englisch weiterzudenken? Merke: Aufgequirlte thematische Journalistenscheiße wird nicht schmackhafter, wenn man sie lokal noch mal aufwärmt. Zumal die Redaktion sich offensichtlich selbst nicht ernst nimmt und die Weihnachtsmänner von Ohligs "on fire" setzt; früher sagte man dazu "Dampf unter'm Arsch machen". Aber heute spricht frau ja englisch *grins*
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Fragt sich, ob Deutsch wirklich immer die bessere Sprache ist. Noch ist der Bombenfund an der Margaretenstraße (siehe oben rechts) unaufgeklärt, da herrscht im Jugendsport schon wieder Bomben-Niveau (gutes und richtiges Deutsch, intelligentes gar, wäre "Bombenniveau" in einem Wort, dann gäbe es nämlich den wirklichen Sinn wieder – oder wider?). Warum nicht gleich "Voll krass und geil"?


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Alle vier Motive stammen aus der gleichen Tagesausgabe der SM, 29. Nov. 2006, womit der Widerspruch in sich nicht nur deutlich, sondern greifbar wird.

Über einige Beispiele regt sich die SM besonders auf (künstlich, versteht sich); Beauty-Supply würde man nicht verstehen. Aber in Wellness fahren die Leute, sind hip und hören Musik vom MP3-Player, fummeln an der XBox oder surfen, um einige Specials zu finden für den Kurztrip in den Club bei all inclusive? Oder essen Pommes frites mit Ketchup (Bratkartoffeln wäre doch auch ein schönes Wort, es ist nichts anderes als die direkte Übersetzung; "Brotärpel met Schmeer" op Soijer Platt). Das alles wäre also nicht on sale, sondern unverständlich.

Mir dagegen ist unverständlich, wie die Solinger Verwaltung und Journaille tickt: weil die Ampelmasten nicht zentimetergenau aufeinander zeigen, gibt es "Probleme" und wird der Verkehr über Tage, wenn nicht Wochen, weiter eingeschränkt und die Freigabe der Baustelle verzögert sich. Könnte es sein, dass solch hausgemachter Blödsinn eine internationale, weltweit verständliche Vokabel verdient: piss off.
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Englisch wäre unverständlich für normale Menschen, aber dass Indien für Solingen "shooting star" ist, ja, welcher Zeitungsleser kann das denn noch verstehen? Und eine Exportstadt ohne Englischkenntnisse, und das in Indien, mmhhhh????

Gut, dass Frank Püttbach joggt. Besser noch, dass er fotografiert. Am genialsten aber, dass er "im Laufen" so herrliche Bilder machen kann. Verraten sei, dass es zwar auf seinen Körperertüchtigungs-Tor-Touren war, als er die Bilder einfing, der Computer aber, und das ist dann am allerbesten, kräftig mitgeholfen hat, eine solche Stimmung zu komponieren. Sie zeigt – na, kennen Sie es? – zwar nicht gerade das Tor zur Solinger Unterwelt, es ist auch nicht, wie in Wien ein Dritter Mann zu suchen, aber immerhin ist es der Ex-Eisenbahntunnel unter dem Schlagbaum, heute Teil eines genialen Spazier-, Lauf- und Wanderweges quer durch die Solinger Innenstadt und garantiert eben. Sie nennt sich Korkenzieher-Trasse, weil diese Strecke früher diesen Namen weg hatte. Sie wand sich schlangenartig vom Grünewald über Schlagbaum, Wald und Gräfrath bis Vohwinkel. Im Rahmen der Regionale 2006 wurde sie in weiten Teilen der Bevölkerung "zurückgegeben". Warum man bei dem sinnigen Namen an den Böschungen bis heute noch keine Weinreben gepflannzt hat, bleibt unverständlich. Das wäre doch etwas: Der "Solinger Kottenacker", mit trieftrauriger Säure, widerspenstigem Körper, erinnert an den Duft von Fusel und Piepenqualm ... mithin ein Spitzenwein ! Bis dahin läuft aber noch einiges. Unter anderem Frank Püttbach, dem Dank für diese Aufnahme gebührt.
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Der Glanz der Sprache! Wie oft redet man – und ich – so gerne darüber. Um festzustellen, wie sehr sie auch zum Fluch und Elend werden kann. Weil sie sich gegen sich selbst richtet. Ähnlich jenen Krankheitsbildern, da Schutzviren des Körpers beginnen, das, was sie schützen sollen, zu attackieren und zu vernichten. Mit tödlichen Folgen. Und auch Metaphern, guter, ernster, seriöser Journalismus kann solche Phänomene erzeugen. Unbeabsichtigt, aber vielleicht sogar unvermeidbar.
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Bildauswahl ist in jeder Redaktion eine heikle Angelegenheit. Ständig schwankt man zwischen "Realfoto", also eine Art Dokumentation und Bildmetaphern, Symbolbildern. Hingegen muss eine Tageszeitung für den überörtlichen Bereich das nehmen, was aktuell von den Bildagenturen angeboten wird. Dass in diesem Fall beide Genres zum exakt gleichen Ergebnis kommen, ist ein makabrer Zufall des Tagesgeschehens.
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Der Spiegel veröffentlicht am Montag, 20. Nov. 2006 ein Titelfoto, das auf den Bundeswehr-Konflikt in Afghanistan hinweist: man dürfe, so der Vorwurf anderer "Schutztruppen" in diesem Land, sich nicht nur mit Wachdiensten glänzen, sondern die Bundeswehr müsse aktiv kämpfen – eben auch darin eingeschlosen töten (lernen). Die Spiegelredakteure können zu diesem Zeitpunkt der Bild- und Wortwahl nicht wissen, was auch an diesem Montag passiert: wieder einmal überfällt ein jugendlicher "Außenseiter" (will sagen: hunderttausendfacher Prototyp) eine Schule und ballert. Das Land ist entsetzt. Ohne oder mit der Wahrnehmung, wie identisch die Bilder, wie wechselbar die Klischees, wie dürr und hilflos Worte und Metaphern sind.

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Politiker müsste man sein. Dann hätte man zwar nicht die Lizenz zum Töten, aber zum Blödeln schon. Kaum war dieser wiederholte "Einzelfall" in Emsdetten geschehen, forderte die Politik – Casablanca lässt grüßen: "Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen" – rigoroses Vorgehen gegen andere. Dass sie es, summarisch, selbst gewesen ist, die eben jene Verhältnisse im Lande geschaffen hat oder zuließ, über die sie sich nun beklagt, darauf kommt keiner der Politiker. Oder wagt es nicht, es auszusprechen. Statt dessen wird wieder das Klischee gepflegt, ach was für ein böser Einzeltäter, der sich so undankbar gegenüber der Gesellschaft zeigt – die ihn, so sein Bekenntnis, ausgeschlossen hat. Die Reaktion der Politik: Verwirrung.

Eine Solinger Lehrerin fand übrigens eine ungemein praktische und sinnvolle, von intensiver Sachkenntnis zeugende Lösung: Man möge, sagte sie laut einem "Solinger Morgenpost"-Bericht, die Inhalte, die ins Netz gestellt werden, einer stärkeren Eingangskontrolle unterziehen. Ich glaube, umfänglicher kann man nicht mehr über das Internet konkret Bescheid wissen ...

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Wenn sie nicht so ernst und traurig wäre, die Lage, könnte man ja schmunzeln: Selbst die Polizei jammert, das Land sei schlimmer, als die Polizei erlaubt. Und dann auch noch jede Menge Staus: Sozialstau, Stellenbesetzungsstau, Verkehrsstau, Venenstau, Samenstau ...
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Da kommt ein gutes Beispiel wie gerufen. Dass wenigstens Gelder noch fließen, in die eigenen Taschen, dafür sorgen immer mehr, immer intensiver die "Hohen Herren", wie sie einst genannt worden. Ganz gewöhnliche Gauner, als Vorstandsmitglieder oder Führungskraft in (deutschen) Weltunternehmen getarnt.

Gut, dass wir wenigstens den Vatikan haben. Seit dem Bayerischen Papst, einst als Hardliner verkannt, mehren sich die Zeichen für frohe Botschaften: wenigstens gegen den Samenstau will man nun etwas unternehmen. Mal sehen, was dabei rauskommt. Wahrscheinlich sind demnächst nur noch mit Weihwasser gesegnete Kondome erlaubt. Abwarten, und Siemens ausrauben.

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Es geht aber auch mehrere Nummern kleiner, auf Lokalebene. Glanz und Elend liegen in diesem Falle nicht dicht neben-, sondern exakt 100 Meter untereinander. Unter der Müngstener Brücke gibt es eine neue "Sensation": die welt-erste Seilschwebefähre. Sie rollt auf Seilen und wird per Schwenkhebel betrieben, wie einst die Draisinen (dass hier ein Sicherheitskletterer zur Insprektion am Seil hängt, ist nicht Normalfall). Aber "oben" auf der Brücke kann man demnächst auch eher zu Fuß laufen als mit dem Zug fahren. Seit Dezember 2006 werden wieder einmal in Solingen die Züge ausgedünnt. Pünktlich zur Umbenennung des Ohligser in Hauptbahnhof (weil der alte in Solingen nicht mehr existiert) werden die IC-Halte verringert. Und jetzt, wo mit Millionenaufwand die neuen Haltepunkte Mitte und Grünewald gebaut worden sind, lässt man auch weniger Züge fahren. Nicht nur Experten äußern immer wieder wörtlich die Ansicht, Verkehrspolitik in Deutschland sei ein Possenspiel.
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Apropos Müngstener Brücke. Gerne wird sie ja auch ihrer Form wegen als einzigartige dargestellt. Das jedoch ist eine falsche Interpretation. Ihre Höhe macht sie unique: mit 107 Metern ist sie (immer noch) Deutschlands höchste Eisenbahnbrücke. Dass ihre Konstruktion zwar eine ingeniöse Meisterleistung, aber kein Unikat ist, beweist das ach so schöne Appenzell, Heimat glücklicher Menschen, glücklicher Kühe, eines sagenhaften Käses und einer Landschaft, die zu den "kitschigsten" zählt, die man sich denken und anschauen kann.