Totterblotschen (9)

Wie modern ist Solingen? Sehr. Denn jüngste Vergangenheit ist modischer Weise ein Thema der Kunst. Man erklärt zu Kunstwerken, was in Wirklichkeit morbider Verfall ist. Gut so, denn in Solingen haben wir mehr Motive davon, als einem liebe sein kann. Die Fotografin Kerstin Ehmke-Putsch, die einmalig "schöne" (sprich: traurige) Fotos vom alten Solinger Hauptbahnhof machte, hat nun eine andere Quelle subtiler Eigenartigkeit entdeckt. Unter anderem das alte Delta-Werk an der Gasstraße und an sonstige Grusellokalitäten. Sie wird sich weiter auf die Suche machen..

Mit einer sehr individuellen, charakteristischen Mischung aus Distanzierung und geradezu liebevoller Zuwendung fotografiert Frank Püttbach schon seit langer Zeit Solingen. Auch ihm gelingen immer wieder Aufnahmen, die im besten Sinne Zeitdokumente sind und gleichzeitig weit über das Jetzt, die Gegenwart hinausreichen. Kurioser Weise gleichzeitig in die Vergangenheit wie Zukunft. Sie dokumentieren, was man schon lange kennt. Aber in einer fotografischen Impression, dass man sich vornimmt, das Alltägliche auch selber neu sehen zu wollen. Ein Fotograf, der zumindest bei seinen Veröffentlichungen im Netz nicht "auf Masse macht", bei dem dafür jedes Bild in sich stimmig und – ohne den Begriff zu überstrapazieren – ein Kunstwerk ist.

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Seit man in Solingen das elektrische Licht per Kupferdraht und die Wasserversorgung per Kupferrohr eingeführt hat, bemüht man sich ständig, modernster Technik auf der Spur zu bleiben. Und den Strom nicht über die Wasserleitung oder das Nass durchs Telefon. Zuweilen gelingt es.


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Fotos (5): Kerstin Ehmke-Putsch

Und wenn der Anblick zu wünschen übrig lässt, nun, schwupps ein Sträuchlein vorgepflanzt oder mit Efeu begrünt, und alles sieht wieder heimelig und bewohnt aus.

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Architektonisch wird das strenge Mauerwerk durch eine interessante, verspielte Dachkonstruktion aufgelockert, so dass insgesamt dem Ensemble die Schwere genommen wird und auch die unterbrochene Reflektion in den Fensterscheiben lenkt von der Dominanz waagerechter und senkrechter Betonungen durch konstruktive Elemente ab. Insgesamt also ein verspieltes Ensemble mit anrührigem Charme.

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Auf dieses Klohäuschen zu gehen ist erlaubt, indes, dort seinen Campingwagen abzustellen oder gar über Nacht zu bleiben – mit dem Fahrzeug – nicht. Zur blauen Stunde, Twilight Zone im Poetry-English genannt, werden ganze Häuserblocks so angestrahlt, dass jederzeit Aufnahmen für das Musical Cats möglich wären. Vorsorglich bereitgestellt vom Stadtkonservator oder Vater statt Konst oder wie auch immer.


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Der herbe Verlust der DDR und ihrer Verfallsucht konnte seinerzeit in Solingen durch die geschickte Nutzung des Geländes und Gebäudes des nunmehr stillgelegten Hauptbahnhof aufgefangen werden. Jahrelang diente dieses Areal der Bundesrepublik als Mahnmal gegen die Schönheit. Da die Regionale 2006 auch dieses Refugium brutal aus dem Schlaf des materiellen Siechtums gerissen und in einen modernistischen Gemengehaufen verwandelt hat, bemüht sich die Stadtplanung intensiv, und wie man sieht mit Erfolg, neue Gebiete auszuweisen, die als Fotokulisse für Ostzonen-Nostalgiefotos dienen. An der Ecke Dönhoff-/Adlerstraße gelingt dies schon mit beachtlichem Erfolg.


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Fotos (3): Frank Püttbach

Wenn Frank Püttbach Bilder veröffentlicht, dann nur solche, die in jedem Falle jenseits der Grenzen normalen Schnappschüsse liegen. Es sind Werke, die sich den Zusatz "Kunst" ehrlich verdient haben.

Wie dieser Zengarten am heiligen Berg ....
nein, natürlich nicht, sondern wie hier die Wupper in Unterburg, wo ein einsamer, aber mächtiger Baum mitten im Strombett steht.

Da schlägt nicht nur das Frühjahr aus, sondern auch der Dichter:
O holde Seele verweile,
an der Wupper bewaldetem Saum,
bevor mit rostigem Beile,
der Förster abschlägt bald den Baum.

Tatü, Tataaaa. Aber schön sind sie, Bild und Wupper, gelle?


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Frank Püttbach zeigt skurilen Humor. Als erster und einziger wagt er eine Klassifizierung Solinger Imbissbuden und nennt die Klassiker. Jene, die schon lange bestehen und multikulturelle Vielfalt bieten: Currywurst, Schaschlik und Gyros friedlich versammelt auf der Speisekarte und es muss ein Spielautomat vorhanden sein.

Im Falle des Donau-Grills oute ich mich mal als Kunde, als allzeit zufriedener überdies.

Nachtrag, wegen obiger Definition. Was ist ein Optimist? Der in den Donau-Grill kommt, für sich und seine Begleitung "2 mal doppelte Currywurst mit Pommes und Mayo" samt zweimal großer Cola bestellt und dann den einzigen Euro, den er noch besitzt, in den Spielautomaten wirft ...
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Krank werden muss man am, im, und um das Städtische Klinikum herum nicht. Das wird man auch, wenn man es an- und sich umschaut: So viel Tristesse lässt ja selbst eine nachhaltige Hospitalitis (Keiminfektion in der Klinik) als angehmes Erleben erscheinen ...

Der Treppenaufgang zum Hauptaufgang ist echt, der Regen auch, das Bild ist irgendwie "schön", aber nichts ist geschönt.

Mehr Bilder von Frank Püttbach:




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Nun mag man ja gerne meinen wollen, hoppla, das mit den zerfallenen Häusern, das ist gewissermaßen so ein Ausrutscher in der Erfolgsgeschichte dieser Stadt. Eine momentane peinliche Verlegenheit; auch dem Reichsten kann passieren, dass er gerade mal für einen Moment knapp bei Kasse ist. Doch leider – weit gefehlt! Der Zustand der Häuser in Solingen war immer schon miserabel, selbst vor hunderten von Jahren. Früher wurde Steuer nach einem anderen Klassensystem gezahlt wie heute. Es richtete sich nach Reichtum. "Bürger erster Klasse" war danach keine ausschließlich soziale Wertung, sondern eine monetäre: bölk-riek, "stinkreich" waren diese Erstklässler. Meistens hatten sie die besseren Häuser. Von denen gab 1747 es insgesamt in Solingen, innerhalb und außerhalb des Stadtwalles:
1. Klasse: 12 Häuser
2. Klasse: 100 Häuser
3. Klasse: 278 Häuser, Behausungen oder Wohnungen

Wortwörtlich stellt der damalige Bürgermeister (Johann Knecht) fest, "daß sich in der zweiten und dritten Klasse sehr viele halbe oder geteilte Häuser befänden; in letzter auch viele aus Schmitten und dergleichen gemacht, so klein und schlecht, daß sich ein Handwerksmann kaum darin behelfen kann und also fast keine Häuser zu nennen seyndt" – mit anderen Worten, die Menschen hausten in Verhältnissen, die man mit einem modernen Wort "Slum" nennt. Eines der "Hucken", im Besitz der kath. Kirche, "klein und niedrig" wurde "zur Schul gebraucht".

Dieses Hauskataster von 1747 ist gleichzeitig eine Bürgerliste und zeigt die "Ur-Solinger"-Failien, die Alt"Dynastien" der Klingenstadt. Letzen Endes waren dies so rund 60, 70 Familien-Clans, die "das Sagen hatten".

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Solinger Tageblatt, 23. 12. 1934



In d'r aulen Tiëd ... war natürlich alles besser, behaupten alle, und wissen es logischerweise nicht. Denn neben der gefühlten Romantik steht die erlebte Realität: Krankheit, Schmutz, Lärm, Plackerei. Pferdegetrappel mag ja hübsch klingen. Allein, ein Pferd zu besitzen, war seinerzeit privilegierter, als heue ein Auto zu fahren.




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Wenn der Brite Fred Scales aus der Grafschaft Kent noch heute an das Bergische Land zurückdenkt, dann an eine für ihn angenehme Militärzeit, die er 1955 in der Ronsdorfer Kaserne verbracht hat.